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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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    Als sich Blank dann auch noch ohne Entschuldigung vor dem Essen von der irritierten Runde verabschiedete, beschloß er, ihn sich vorzuknöpfen.
    Christoph Gerber wußte nicht, wie ihm geschah. Er sprach Blank auf die Meldung an, daß die ELEGANTSA ab sofort in CHARADE integriert und ihr Name verschwinden würde. Und um ihm eine Freude zu machen, fügte er hinzu: »Dr. Arschlochs Gesicht hätte ich zu gerne gesehen.«
    Blank schaute ihn an und sagte: »Raus.« Als Gerber nicht sofort gehorchte, schrie er es: »Raus!«
    Petra Decarli, Blanks Sekretärin, die ihren Chef noch nie hatte schreien hören, streckte den Kopf herein. Blank war kreideweiß und zeigte auf den verdatterten Christoph Gerber: »Schaffen Sie mir das aus den Augen. Endgültig, hören Sie? Aus den Augen!«
    »Ich weiß nicht, was er hat«, stammelte Gerber, als er in der Kaffeeküche einen Cognac trank, den ihm Petra Decarli aufgenötigt hatte. »Er sagt doch auch immer Dr. Arschloch zu Dr. Fluri.«
    »Er hat private Probleme«, tröstete sie ihn. »Gehen Sie ihm ein paar Tage aus dem Weg. Das gibt sich wieder.«
    »Sicher?«
    »Ganz sicher«, sagte sie. Aber so sicher war sie nicht. Da war etwas in Blanks Augen gewesen.
    Urs Blank ging an diesem Tag früher aus dem Büro. Ein Spaziergang würde ihm guttun. Er mußte mit sich ins reine kommen.
    Der See glitzerte in der Sonne, weit im Süden schimmerte die Bergkette wie ein zartes Aquarell. Alte, Mütter, Kinder, Skater, Hunde, Radfahrer, Rapper, Schulschwänzer, Angler, Junkies, Liebespaare, Arbeitslose und Arbeitsmüde tummelten sich im Park.
    Die Hände tief in den Hosentaschen, den Blick auf die Schuhspitzen geheftet, schlenderte Urs Blank über die Promenade. Er war ein ausgeglichener Mensch. Darauf bildete er sich etwas ein. Als kleiner Junge hatte er zwar manchmal Anfälle von Jähzorn gehabt. Es war vorgekommen, daß er mit der bloßen Faust eine Scheibe eingeschlagen oder die Füllung einer Schranktür eingetreten hatte. Aber schon damals schämte er sich für diese Ausbrüche und versuchte sich zu zügeln.
    Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er sechs war. Er hatte vieles von der dramatischsten Phase des Scheiterns ihrer Ehe mitbekommen und auch erlebt, daß sein Vater seine Mutter schlug. Dafür verachtete er ihn aus ganzem Herzen. Er war froh, als die Scheidung ausgesprochen war, und weigerte sich so lange, an den Besuchstagen zum Vater zu gehen, bis dieser nicht mehr darauf bestand. Blank hatte ihn nur noch einmal getroffen: Bei der Beerdigung seiner Mutter vor vier Jahren. Selbst dann mußte er sich überwinden, mit dem alten Mann ein paar Worte zu wechseln.
    Von daher stammte seine tiefe Abscheu gegen jede Form von Gewalt, die er auch die gewalttätigen unter seinen Schulkameraden spüren ließ. Seine Gewaltfreiheit machte ihn zum bevorzugten Opfer von Schulhofschlägereien. Er war ein kräftiger Junge, und die anderen hatten bald herausgefunden, daß es bei ihm einen Punkt gab, an dem er zurückschlug und zu einem gefährlichen, unberechenbaren Gegner wurde. Es war eine beliebte Mutprobe, Urs bis zu diesem Punkt zu treiben.
    Das wurde schwieriger, je älter er wurde. Es gelang ihm immer besser, die Wut in seinem Innern zu behalten. Wenn er ihr erlaubte auszubrechen, dann nur in Form von Gedanken und Phantasien.
    Urs Blank setzte sich auf eine Parkbank und schaute zwei Pudeln zu, die, ängstlich überwacht von ihren Besitzerinnen, erste Annäherungsversuche machten.
    Sein Gewaltverzicht war so weit gegangen, daß er sich zum waffenfreien Sanitätsdienst meldete, obwohl er wußte, daß er so als Jurist wenig Aussicht auf eine militärische Karriere besaß und »Sanitätsgefreiter« ein grober Schönheitsfehler im Curriculum eines Wirtschaftsanwalts war. Blank hatte diese Scharte mit Fleiß, Talent und Disziplin ausgewetzt.
    Vielleicht hatte er es gerade seiner Fähigkeit, seine Gefühle im Zaum zu halten, zu verdanken, daß er es so weit gebracht hatte. Was ihn jetzt beunruhigte, war weniger, daß er die Kontrolle über das längst domestizierte Tier in ihm zu verlieren schien, als die Tatsache, daß es ihm egal war.
    Es gab nichts und niemanden, auf den er Rücksicht nehmen mußte. Weil nichts und niemand wirklich existierte.
    Daß das Unsinn war, war ihm klar. Aber der Unsinn hatte sich tief in seinem Unterbewußtsein festgesetzt und funkte von dort aus in sein Bewußtsein. Es waren die Nachwehen des Psilocybins. Aber er konnte es sich nicht leisten,

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