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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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hat ja die Fusion nicht erfunden, der hat nur seinen Job gemacht, der kann nichts dafür.
    Aber jetzt, wo Blank sich aufführte wie der Erfinder der Schellentrommel, revidierte er seine Meinung. Das Vorurteil stimmte. Blank war das eingebildete Arschloch, für das er ihn von Anfang an gehalten hatte.
    Der Boden kippte. Blank mußte sich setzen. Der Boden kippte auf die andere Seite. Blank legte seine Trommel beiseite und hielt sich am Boden fest. Er fixierte die Spitze des Tipi, dort, wo sich die Zeltstangen trafen und ein Stück blauer Himmel sichtbar war.
    Der Himmel kippte nach hinten weg. Blank schloß die Augen, aber er sah immer noch das Stück blauen Himmels. Es schwang zurück wie ein Pendel. Er öffnete die Augen. Kein Unterschied. Das blaue Pendel begann zu kreisen. Immer enger wurde der Kreis, immer rasender drehte er sich. Das Tipi war ein Kreisel, der sich drehte wie eine außer Kontrolle geratene Jahrmarktsbahn. Die Schwerkraft drückte ihn an die Wand des Tipi. Und das Trommeln ging weiter, schwoll an, ebbte ab, schwoll an. »Stop!« wollte er schreien. Aber er brachte keinen Ton heraus. Der Kreisel drehte, drehte, drehte.
    Plötzlich blieb der Kreisel stehen. Alle im Zelt waren zu Statuen erstarrt, die Trommeln verstummt. Blank wurde schlecht. Er wollte hinaus, aber er konnte sich nicht bewegen. Er war gelähmt. Das einzige Gefühl in ihm war ein unüberwindlicher Brechreiz. Er würgte. Und plötzlich befand er sich im Freien. Er übergab sich. Das Gras schlug über ihm zusammen, die Wiese verschlang ihn.
    Mitten im Schlag hörte Blank auf zu trommeln. Er blieb einen Moment bockstill, dann begann er zu wanken. Wie eine Lenin-Statue nach dem Mauerfall, dachte Lucille. Der Gedanke war so komisch, daß sie ihn weitersagen mußte. »Wie eine Lenin-Statue nach dem Mauerfall«, sagte sie und zeigte auf den schwankenden Urs. Alle lachten.
    Urs stürzte und klammerte sich an seinem Schlafsack fest. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Er kroch an die Wand des Tipi und rollte sich zu einem Embryo zusammen. Er wälzte sich auf den Bauch und hielt alle viere von sich gestreckt. Er begann zu würgen.
    Edwin beobachtete interessiert, wie Blank durchdrehte. Er kannte das von anderen Workshops, an die ihn Pia geschleppt hatte. Sie dachte, es helfe gegen die Depressionen, die ihn seit der Fusion plagten. Immer gab es einen in der Gruppe, der sich in den Mittelpunkt drängte.
    Als Blank zu würgen begann, stand er auf. Das fehlte noch, daß der hier alles vollkotzte.
    Joe hatte gerade wieder den Schanzentisch zum Nirwana erreicht, als das Würgen anfing. Er öffnete die Augen und sah Blank auf dem Boden liegen. Gleich würde er loskotzen.
    Er raffte sich auf und ging zu ihm hin. Zum Glück konnte sich Edwin ebenfalls noch auf den Beinen halten. Er hatte die gleiche Idee gehabt. Sie packten Blank unter den Armen und schleiften ihn ins Freie. Auf der Wiese, in sicherem Abstand zum Tipi, ließen sie ihn liegen. Als sie zurückkamen, empfingen sie Applaus und Gelächter.
    Blank befand sich im Innern der Wiese. Dort war es hell, wie in einer Sonne. Das Licht drang durch seine Augenlider und verwandelte sich in Bildpunkte, die in grellen Farben explodierten. Er war ein gläserner Behälter, der sich bei jeder Explosion mit einer anderen Farbe füllte. Zitronenfaltergelb, Himbeersiruprot, Pistazieneisgrün.
    Lucille versuchte sich zu erinnern, wo Urs geblieben war. Immer, wenn sie an ihn dachte, mußte sie lachen. Sie wußte nicht weshalb, aber es hatte mit ihm zu tun. Wenn sie nicht an ihn dachte, war sie ganz ernst. Aber kaum dachte sie an ihn, kugelte sie sich. Sie konnte das an- und ausknipsen, wie sie wollte. Sie wußte nicht, wie lange sie das schon tat. Eine Stunde sicher. Oder zwei Tage.
    Jetzt fiel ihr ein, daß sie Urs bestimmt schon eine Woche nicht gesehen hatte. Wieder überkam sie die Heiterkeit, die mit Urs zu tun hatte. Sie stand auf, hob die Schellentrommel auf und verließ das Tipi. War da schon immer eine Wiese gewesen?
    Nach ein paar Schritten stolperte sie über etwas. Es war Urs. Er lag mit ausgebreiteten Armen in der Sonne und hatte die Augen geschlossen. Sie mußte furchtbar lachen.
    »Psst«, sagte er. »Du vertreibst die Wiesenwichte.«
    Da mußte sie noch mehr lachen. »Die Wiesenwichte? Die Wiesenwichte?« lachte sie und klopfte auf der Schellentrommel den Takt dazu.
    Da schlug er sie ins Gesicht.
    Die Wiese hatte Blank ausgespuckt. Er lag jetzt wieder auf ihr. Aber er konnte sich noch immer nicht

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