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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Sorgen um Urs. Er war apathisch und tat, als existiere sie nicht. Er ließ sich widerstandslos waschen, die Kratzer an Gesicht, Armen und Händen desinfizieren und in den Jogginganzug stecken, den sie in seinem Daypack gefunden hatte. Er kroch gehorsam in den Schlafsack und fiel kurz darauf in einen tiefen Schlaf.
    Sie hoffte, daß er wieder als der alte Urs daraus erwachen würde. Dieser hier war ihr fremd und unheimlich geworden.
    Joe und Shiva, die beiden Experten, hatten empfohlen, Blank so lange schlafen zu lassen, bis er von selbst aufwachte. Schlaf sei das beste Mittel gegen einen schlechten Trip. Die Gruppe war aufgestanden, hatte gefrühstückt, gepackt und war seit einiger Zeit marschbereit. Die Stimmung war nicht besonders. Ihre Trips waren durch Blanks Eskapaden in eine falsche Richtung gelenkt und zu früh abgebrochen worden. Alle hatten mit Nachwirkungen zu kämpfen und wollten so rasch als möglich nach Hause.
    Gegen Mittag beschlossen sie, Urs zu wecken.
    Urs brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. Es hatte eine Zeit in seinem Leben gegeben, in der er ab und zu mit einem Kater erwacht war. Mit schweren Gliedern, trockenem Mund, schmerzenden Augenhöhlen, dumpfen Kopfschmerzen und voller diffuser Erinnerungen, die darauf lauerten, Gestalt anzunehmen.
    Diesmal kam noch das Brennen der Kratzer hinzu. Und der verschwitzte Schlafsack, der ihn wie eine Riesenschlange umfing. Und die Traurigkeit, die ihn auf die dünne Isoliermatte niederdrückte.
    Als er die Augen öffnete, sah er Lucilles lächelndes Gesicht über sich. Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war sie noch immer da. Er wußte nicht, weshalb ihn das erstaunte. Aber als er sich aufrichtete und seine zerkratzten Arme untersuchte, kam es ihm wieder in den Sinn: Es gab sie nicht.
    Diese Erkenntnis hatte über Nacht nichts von ihrer Unausweichlichkeit verloren.
    Er stand auf, wusch sich beim Wasserfall, packte seine Sachen und schloß sich grußlos den anderen an, die ihn gereizt erwarteten. Sie machten sich schweigend auf den Rückweg.
    Die Bewegung und die Waldluft taten ihm gut. Als sie beim Bauernhof ankamen, gelang es ihm sogar, gute Miene zum Abschiedsritual zu machen. Man trank einen Kräutertee, gelobte Stillschweigen und bezahlte den freiwilligen Beitrag von mindestens zweihundert Franken pro Person. Blank gab fünfhundert.
    Joe fand, er hätte ruhig auch mehr geben können.
    Auf der Rückfahrt waren sie beide wortkarg. Nur als Lucille Pink Floyd spielen wollte, erhob Blank Einspruch.
    Einmal fragte Lucille: »Willst du darüber sprechen?«
    Blank schüttelte den Kopf.
    Dann wieder bemerkte sie: »Das kann mehrere Tage dauern. Man erfährt Dinge, die man nie gewußt hat. Das muß man verarbeiten. Ich kenne das.«
    Blank bezweifelte, daß sie das kannte.
    Sie waren bereits in einem Außenquartier der Stadt, als Lucille sagte: »Du hast mich geschlagen.«
    »Ich weiß.«
    »Du weißt es und sagst nichts?«
    »Ich habe dich nicht richtig geschlagen.«
    »Es hat weh getan«, empörte sie sich.
    »Schon. Aber es war nicht wirklich.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ich weiß.«
    Er hielt vor ihrer Haustür und nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum.
    »Kommst du nicht rauf?«
    »Besser nicht.«
    »Es ist nicht gut, wenn man danach allein ist.«
    »Man ist immer allein.« Blank setzte sich hinter das Steuer, ließ den Motor an und fuhr weg.
    »Es tut mir leid!« rief Lucille ihm nach. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet.
    Sonntagabende im Imperial waren eine ruhige Zeit. Die Ankunft von ein paar Geschäftsleuten, die am Montag früh Termine hatten, ein paar Familien, die die Großeltern aus Tradition einmal im Monat ins Imperial ausführten, ein paar Durchreisende und die wenigen Dauergäste, von denen Urs Blank einer war.
    Er war vor einer Stunde angekommen, und Herr Fenner, der Concierge, hatte ein paar Worte über das herrliche Frühlingswochenende geäußert. »Wie geschaffen für den Wald«, hatte er mit einem Blick auf Blanks Zustand festgestellt.
    Blank hatte sich in die Badewanne gelegt und damit begonnen, vernünftig zu werden.
    Was war passiert? Er hatte – Idiot, der er war! – einen psychedelischen Trip unternommen und Dinge gesehen und erlebt, die es nicht gibt. Das ist der Sinn von psychedelischen Trips. Eine Reise in die Unwirklichkeit. Jetzt war er wieder zurück in der Wirklichkeit. So war es. Nicht umgekehrt.
    Das sagte er sich immer wieder. Und es funktionierte. Solange ihm nicht die Augen zufielen. Denn

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