Die dunkle Seite des Mondes
dann wurde die Unwirklichkeit wieder wirklich.
Blank zwang sich, aus der Badewanne zu steigen und kalt zu duschen. Er rasierte sich, zog sich ein weißes Hemd, einen anthrazitfarbenen Anzug und eine japanische Designerkrawatte an und ging ins Restaurant.
Er aß mit mehr Appetit, als er sich zugetraut hatte, einen Salat, ein Filetsteak mit frischen Erbsen und Risotto. Er wagte sich sogar an ein halbes Fläschchen bewußtseinserweiternden Bordeaux.
Vom Zimmer aus rief er Lucille an und entschuldigte sich für sein brüskes Benehmen. Sie klang sehr froh, daß es ihm besserging. »Ich habe mir schon Vorwürfe gemacht«, sagte sie. Sie tauschten ein paar Banalitäten aus, er wußte nicht, wie lange.
Lucille war froh, als Blank sie anrief. Er klang wieder ganz normal, erzählte ihr, was er gegessen hatte, erkundigte sich sogar, wie Troll ihre Abwesenheit überstanden hatte. Sie plauderten ein wenig. Irgendwann hatte sie das Gefühl, daß er ihr nicht mehr zuhörte. Zuerst ließ er noch ab und zu ein »mmh« oder »jaa« vernehmen. Dann wurde er ganz still. Irgendwann merkte sie, daß er aufgelegt hatte. Nicht im Zorn. Ohne Grund. Einfach so. Wie wenn er vergessen hätte, daß sie existierte.
Wahrscheinlich ist er eingeschlafen, dachte sie.
Unterhalb des Kremls, nahe bei der ewigen Flamme für den unbekannten Soldaten, ragten Bronzestatuen im Stil von Disneyfiguren aus dem Bett eines künstlichen Flüßchens, dessen Wasser zur Zeit abgedreht war. Daneben führte eine Treppe in ein elegantes unterirdisches Einkaufszentrum. Es war im Stil der Moskauer U-Bahn-Stationen gebaut. Aber bei näherem Hinschauen sah man, daß Gips, Kunststoff und Spritzbeton die dominierenden Baustoffe waren.
Ott ging mit Tischtschenko durch die fast menschenleeren Gänge, vorbei an Schaufenstern, von denen über die Hälfte leer waren.
Ein paar Schritte vor und ein paar Schritte hinter ihnen gingen je ein junger kurzgeschorener Mann im dunklen Anzug mit einem Knopf im Ohr, aus dem ein dünnes Kabel ragte und diskret unter dem Revers verschwand.
Tischtschenko war darauf spezialisiert, westlichen Investoren den Zugang zur Moskauer Geschäftswelt und deren Eigenheiten zu erleichtern. Aber Ott hatte nicht vor, in die russische Wirtschaft zu investieren. Sein Interesse galt dem Umstand, daß es Tischtschenko gewesen war, der Fluri damals beraten hatte.
Vor einem leeren Schaufenster blieben sie stehen. »Von hier an«, erklärte Tischtschenko in fließendem Englisch, »bis dort unten: alles MOCKTEX .« Er zeigte auf eine lange Flucht von Schaufenstern.
Die ELEGANTSA hatte eine Mehrheitsbeteiligung an der MOCKTEX in die Fusion mit CHARADE eingebracht.
Sie schlenderten langsam an den Schaufenstern vorbei. Sie waren alle leer bis auf ein paar vergessene Farbkübel, Putzlappen und alte Zeitungen. Im letzten lag der Arm einer Schaufensterpuppe.
»Was schätzen Sie: Wieviel ist das wert?«
Tischtschenko blieb stehen. »Sie wollen das doch nicht etwa kaufen?«
»Warum nicht? Die Lage ist gut, und die Krise wird vorübergehen.«
»Wenn Sie Immobilien suchen, kann ich Ihnen in Moskau hundert bessere Sachen zeigen. Das hier ist nichts wert.«
»Nichts?«
»Auch wenn Sie es für eine halbe Million Dollar bekommen, es wird immer mehr kosten, als es einbringt.«
Ott nickte nachdenklich. In der Bilanz der ELEGANTSA war der Immobilienwert der MOCKTEX mit zwölf Millionen Dollar angegeben.
Huwyler hatte Blank noch nie so erlebt. Sie führten die ersten Sondierungsgespräche mit den Vertretern der anderen Fusionsparteien. Jack Taylor von BRITISH LIFE , Jean-Paul Le Cerf von SECURITÉ DU NORD und Klaus Gebert von der HANSA ALLGEMEINEN . Die Sitzung war auf zehn Uhr angesagt. Mit anschließendem Mittagessen, zum Kennenlernen.
Sie tagten im Direktionssitzungszimmer der CONFED . Haupttraktanden: Etappenplan der Verhandlungen und Geheimhaltungskonzept. Blank kannte die hiesigen Verhältnisse am besten und war auch der mit der größten Fusionserfahrung. Ihm fiel die Rolle des Moderators zu, die er normalerweise mit viel Eleganz und Diplomatie beherrschte. Aber heute war er verändert. Er wirkte abwesend, verlor den Faden, nahm ihn unvermittelt wieder auf, unterbrach die Gesprächspartner oder studierte sie verwundert, wie seltene Insekten.
Huwyler wußte zwar durch eine Indiskretion von Dr. von Berg, daß Blank eine Affäre mit einem sehr jungen Mädchen hatte. Aber daß diese solche Auswirkungen auf seine Leistung hatte, war er nicht bereit zu
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