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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Schritte, die er in dieser Richtung ging. Wenn der Weg frei war, ging er in der ursprünglichen Richtung weiter bis ans Ende des Hindernisses. Dann drehte er den Kompaß, bis die Nordnadel auf der anderen Umgehungsmarke lag, und ging die gleiche Anzahl Schritte zurück. Nichts überließ er dem Zufall.
    Nach einer Stunde stieß er auf einen kleinen Bach. Er folgte ihm, so gut es ging. Dreimal verschwand er zwischen Felsbrocken oder im undurchdringlichen Buschwerk. Dreimal umging Blank die Hindernisse und fand den Bach wieder. Beim vierten Mal war er verschwunden.
    Er ging zurück zur Stelle, wo der Bach zwischen den Felstrümmern verschwunden war, und umging diese von der anderen Seite. Fast sechshundert mühsame, unsichere Schritte kam er vom Weg ab, bis der Felssturz an einer farnbewachsenen Mulde endete. Er überquerte sie und ging oberhalb der Felsbrocken in die Richtung, wo er den Bach vermutete. Nach dreihundert Schritten stieß er auf das nächste Hindernis: ein Dickicht aus Jungtannen, die im Nordwesten an eine senkrechte Felswand grenzten und im Südosten an die Felstrümmer. Dahinter mußte der Bach liegen.
    Blank legte den Rucksack ab, versteckte ihn im Farn zwischen zwei Felsbrocken und kroch durch die Jungtannen. An mehreren Stellen mußte er mit dem Messer die untersten Äste kappen.
    Er schätzte, daß er etwa fünfzig Meter gerobbt war, als er das Gurgeln hörte. Nach weiteren zehn Metern sah er den Bach. Er entsprang unter einem gewaltigen Felsbrocken am Rande einer Lichtung von nicht einmal vierzig Quadratmetern. Sie war mit einer dicken Schicht aus Moos, Farn und Heidelbeerkraut gepolstert und von Blockschutt und jungen oder verkrüppelten Fichten umschlossen. Die Sonne konnte, wenn überhaupt, nur im Hochsommer für ein paar Stunden den Grund der Lichtung erreichen. Aber jetzt schien sie auf das kleine Plateau des Felsbrockens, fünf Meter über ihm.
    Blank robbte zurück und holte den Rucksack.
    Lange vor der Dämmerung hatte Urs Blank sein Lager errichtet. Sein kleines, graues Tunnelzelt stand auf der flachsten Stelle der Lichtung. Waschbeutel und Handtuch hingen an den Ästen einer Fichte neben der Quelle. Mit dem wasserdichten Poncho hatte er sich auf einem bemoosten Stein eine trockene Sitzgelegenheit geschaffen. Daneben hatte er aus ein paar Steinen einen Windschutz für seinen Kocher gebaut. Ein paar Meter außerhalb der Lichtung, zwischen den Felstrümmern, gab es eine Stelle, die sich als Latrine eignete. Er hatte sie mit einem Sitz aus geschälten Fichtenstämmchen und einem Vorrat Walderde versehen.
    Blank legte sich das Kletterseil um die Brust und begann, den mit Bärlappgirlanden behangenen Felsbrocken zu erklettern. Er hatte ein paar Tritte und Griffe gelernt, aber noch nie in der Praxis angewandt. Zweimal konnte er weder vorwärts noch zurück und mußte seine ganze Konzentration aufbieten, um nicht in Panik zu geraten. Als er oben ankam, machte er das Seil für den Abstieg und künftige Aufstiege fest.
    Der Fels war gerade hoch genug, daß ein Mann von Blanks Größe über die Wipfel hinausblicken konnte.
    Er schaute ins Tal vor ihm und auf die verstreuten Dörfer. Er genoß das Gefühl, der einzige Mensch zu sein, der wußte, wo Urs Blank sich befand.
    Zwei Nächte wollte er im Wald verbringen. Aber als ihn am zweiten Morgen Regen weckte, beschloß er, eine dritte Nacht anzuhängen. Bei Sonnenschein überleben war keine Kunst.
    Er hatte sich einen kleinen Vorrat Brennholz angelegt, den er mit dem Poncho vor Regen schützte. Jetzt baute er aus ein paar Stecken und Schnüren und dem Poncho einen Unterstand beim Felsen, machte Feuer und kochte Kaffee.
    Der Regen fiel auf die Tannen und Fichten, tropfte von den schweren Ästen, floß an den Stämmen herunter, entlang den Algenspuren vieler früherer Regen. Die Krautdecke der Lichtung saugte sich voll wie ein Schwamm. Das Moos, die Farne, das Heidelbeerkraut, die unter Blanks Besuch gelitten hatten, begannen sich aufzurichten.
    Blank hörte auf das monotone Rauschen und starrte in die smaragdgrüne, zerfließende Wildnis. Nichts war wirklich, nur er selbst.

12
     
    An einem schwülen Tag Ende Juni erhielt Rolf Blaser die Mitteilung, daß sich Lucille Martha Roth bei der Stadtpolizei gemeldet habe. Ob er immer noch an einer Befragung interessiert sei, wollte der Beamte wissen, der anrief.
    »Immer noch«, antwortete Blaser.
    »Können Sie die nicht selbst vernehmen? Wir brauchen hier jeden Mann, der nicht in den Ferien ist.«
    Blaser

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