Die dunkle Seite des Mondes
allen vier Himmelsrichtungen sah der Wald gleich aus.
Bald wurde das Gezwitscher der Vögel abgelöst vom Zischeln, Raunen, Tuscheln, Knistern, Knacken und Rascheln der Waldnacht.
Blank hatte eine Taschenlampe im Rucksack. Aber ihr Strahl zerlegte den Wald in Einzelteile aus Stämmen, Stauden und Büschen. Eine Weile suchte er nach einem Weg, der ihn irgendwann zu einem Wegweiser oder an den Waldrand gebracht hätte. Aber das Dickicht wurde immer undurchdringlicher und immer enger der Radius, den er mit seiner Lampe beleuchten konnte. Er beschloß, einen Platz zum Übernachten zu finden.
Zwischen zwei alten Buchen stieß er auf einen niedrigen Molassefelsen, in den die Gletscher der Eiszeit eine flache Mulde geschliffen hatten. Er polsterte sie mit grünen Zweigen aus, die er von einer jungen Fichte schnitt.
Er zog die Windjacke an und machte es sich, so gut es ging, auf seinem Lager bequem. Der Rucksack diente als Kopfkissen, eine hauchdünne Rettungsfolie als Decke. Fast augenblicklich schlief er ein.
Blank erwachte, weil er fror. Er leuchtete auf seine Uhr und stellte fest, daß er noch keine Stunde geschlafen hatte. Die Mulde, in der er lag, war feucht und kalt. Die Folie, die seine Körperwärme reflektieren sollte, reflektierte vor allem die Kälte des Molassefelsens unter ihm.
In den Blättern hoch über ihm rauschte es leise. Es hatte zu regnen begonnen. Blank richtete sich auf. Dicht neben ihm begann das Blätterdach zu lecken. Schwere Tropfen klatschten auf den Fels. Blank raffte seine Sachen zusammen und leuchtete die Umgebung nach einem Platz zum Unterstehen ab.
In einem kleinen Dickicht aus jungen Fichten kauerte er sich unter seiner Rettungsfolie zusammen. Von allen Seiten troff es von den Ästen. Blitze, dicht gefolgt von harten Donnerschlägen, durchleuchteten den Wald sekundenlang wie einen Scherenschnitt. Gewitterböen trieben Blank die feuchte Kälte bis auf die Knochen.
Fast eine Stunde dauerte es, bis das Unwetter vorübergezogen war. Blank versuchte mit Kniebeugen, Hüpfen und Liegestützen seinen schlotternden Körper aufzuwärmen. Nichts zu essen, nichts zu trinken, nicht einmal ein Streichholz hatte er in seinem Rucksack. Er wollte auf die Uhr schauen, um zu sehen, wann es endlich dämmern würde. Aber die Taschenlampe hatte ihren Geist aufgegeben. Wahrscheinlich hatte das Regenwasser einen Kurzschluß ausgelöst. Blank nahm sich vor, nie mehr so schlecht ausgerüstet in den Wald zu gehen.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich in den Kronen da und dort das Laub im grauen Himmel abzuzeichnen begann. Sobald er die ersten Stämme ausmachen konnte, marschierte er los.
Keine zwanzig Meter weiter stieß er auf einen Weg, keine hundert Meter weiter auf einen Wegweiser. »Waldacker 10 Min.« stand drauf. So hieß der Weiler, wo er seinen Wagen stehen hatte.
Die Akte »Joe Gasser« hatte auf Rolf Blasers Schreibtisch schon etwas Staub angesetzt. Es gab keine Angehörigen, die Druck machten, und die vorgesetzten Stellen hatten andere Prioritäten. Er hätte den Fall längst abgeschlossen, wenn nicht dieser Schönheitsfehler mit dem schwarzen Jaguar gewesen wäre. Bevor Blaser die Sache abhaken konnte, mußte er der Aussage noch einmal nachgehen. Und sei es nur pro forma.
Er war auf dem Rückweg vom Verhör des Opfers einer Wirtshausschlägerei, das mit einem gebrochenen Kiefer im Krankenhaus lag. Er hatte den Popsender eingestellt, manchmal spielten sie dort Songs aus der Zeit, als er zwanzig war. Er fuhr durch die wolkenverhangene Landschaft und dachte an nichts, was mit seinem Beruf zu tun hatte. Eine angenehme Männerstimme sang zur akustischen Gitarre eine Liebeserklärung an einen kleinen Pilz. Der Song war beinahe zu Ende, als Blaser begann, auf den Text zu achten. Der ließ darauf schließen, daß es sich beim »Zwergenhütchen« nicht um einen gewöhnlichen Speisepilz handelte.
Blaser notierte sich den Namen des Sängers. Er hieß Benny Mettler. Die Aufnahme war bei einem Straßenmusiker-Festival entstanden.
Einer, der Liebeserklärungen an Pilze sang, hatte vielleicht auch Joe Gasser gekannt.
Urs Blank verbrachte drei Tage mit einer schweren Erkältung im Bett. Das Hotel Stadtwald mit seinen vielen alten Dauergästen war auf Pflegefälle eingerichtet. Der Hotelarzt schaute nach ihm und verschrieb ihm Antibiotika. Die Zimmermädchen wechselten regelmäßig seine Bettwäsche, und die Küche versorgte ihn mit Tee und leichten Mahlzeiten.
Seine Fieberträume waren ein Wirrwarr aus den
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