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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Blank. Noch selten hatte er erlebt, daß sich die Persönlichkeit von jemandem in so kurzer Zeit so radikal veränderte. Aus dem charmanten, ausgeglichenen und amüsanten Weltmann war ein ruppiger, launischer und wortkarger Eigenbrötler geworden.
    Früher konnte man sich mit Blank über alles unterhalten. Er war nicht nur ein guter Erzähler, er war ein fast noch besserer Zuhörer. Jetzt gab es für ihn nur noch zwei Themen: Urs Blank und der Wald. Was langsam ein und dasselbe wurde.
    Bei ihren wöchentlichen Sitzungen in der Praxis ging das ja noch an. Es war nichts Ungewöhnliches, daß für Psychiatriepatienten die Welt nur aus ihnen selbst bestand. Aber bei ihren Mittagessen im Goldenen hätte Wenger gerne ab und zu das Thema gewechselt.
    Er hatte weder in der Literatur noch bei Kollegen Beispiele von Fällen gefunden, in denen sich Patienten nach einem einzigen Erlebnis mit Psilocybin so nachhaltig veränderten, daß sie – er konnte es immer noch nicht ganz ausschließen – eine Gefahr für ihre Umwelt darstellten. Blank versicherte zwar, daß seine selbsterfundene Waldtherapie Wunder wirke. Aber Wenger stieß bei ihm immer wieder auf Anzeichen einer Rücksichtslosigkeit, die er früher nie an ihm beobachtet hatte.
    Auch die Eleganz, früher eine von Blanks hervorstechenden Eigenschaften, hatte einer Nachlässigkeit Platz gemacht, die überhaupt nicht zum Bild paßte, das Wenger von seinem alten Freund besaß. Er hatte beinahe acht Kilo abgenommen und trug Hosenträger, die seine zu weit gewordenen Hemdkragen mal nach links, mal nach rechts zerrten. Niemand hätte mehr erraten, daß seine Anzüge maßgeschneidert waren.
    An diesem Mittwoch kam er zu spät, wie so oft in letzter Zeit. Aber wenigstens schien er bei guter Laune.
    »Lucille ist zurück«, verkündete er. »Ich habe sie am Stand getroffen.«
    »Wie geht es ihr?«
    »So, wie sie aussieht, gut. Sehr gut sogar.«
    »Gesprochen hast du nicht mit ihr?«
    »Nur ein paar Worte. Sie hatte Kunden. Aber ich werde sie heute abend besuchen.«
    Wenger wunderte sich. Bei seinem letzten Gespräch mit Lucille, kurz vor ihrer Abreise, hatte sie nicht geklungen, als würde sie als erstes nach ihrer Heimkehr Blank einladen.
    Lucille hatte Urs Blank nicht eingeladen. Sein Besuch sollte eine Überraschung sein. Er hatte heute früh auf dem Rückweg von seinem bisher längsten Waldaufenthalt – vier Tage und fünf Nächte – unter einer Rotbuche eine Gruppe Sommersteinpilze entdeckt. Mit acht frischen Steinpilzen, frischen Pappardelle vom Feinkostgeschäft, Zwiebeln und Knoblauch wollte er sich bei ihr Zutritt verschaffen. Und wenn sie das nicht überzeugen würde, hatte er noch ein Körbchen selbstgepflückter Heidelbeeren dabei.
    So klingelte er am frühen Abend an Lucilles und Pats Wohnungstür. Niemand öffnete. Aber es war jemand zu Hause. Er hörte Musik.
    Er drückte wieder auf die Klingel. Die Musik verstummte. Niemand kam zur Tür. Er klopfte. »Lucille, ich bin’s, Urs. Ich weiß, daß du da bist«, rief er.
    Jetzt hörte er Schritte. Der Schlüssel wurde im Schloß umgedreht, die Tür öffnete sich einen Spalt, Lucilles Gesicht erschien.
    »Was ist?« Es klang nicht freundlich.
    »Überraschung.« Er lüftete das weiße Tuch von seinem Korb und hielt ihn so, daß sie die Pilze sehen konnte.
    »Ich habe jetzt keine Lust auf Pilze«, sagte sie. Sie machte keine Anstalten, ihn hereinzulassen.
    Erst jetzt bemerkte er, daß sie ihren chinesischen Schlafrock trug. »Bist du im Bett?« Lucille nickte.
    »Das bringt dich wieder auf die Beine: frische Steinpilze, frische Pappardelle, frische Heidelbeeren…«
    Plötzlich merkte Blank, was los war. »Du bist nicht allein«, stellte er fest. Er stieß die Tür auf und stürmte an Lucille vorbei in ihr Zimmer.
    Auf der Matratze am Boden lag Arshad. Blank setzte ihm das Knie auf die Brust und begann ihm die Kehle zuzudrücken.
    Hinter ihm schrie Lucille etwas, das er nicht verstand. Sie riß ihn an den Haaren und schlug auf ihn ein. Auch Arshad schlug um sich. Blank ließ seine Kehle nicht los.
    Da traf ihn ein Schlag auf den Schädel. Für einen Moment war er benommen. Er griff an den Kopf, spürte etwas Warmes, nahm die Hand runter, sah, daß es Blut war.
    Arshad war aufgestanden und nackt in die Küche geflüchtet. Blank stand auf. Er war etwas unsicher auf den Beinen. Lucille stellte sich ihm in den Weg. Sie hatte drohend eine Bratpfanne erhoben. Er stieß sie beiseite und taumelte in die Küche. Arshad war in

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