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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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hatte nichts dagegen. Jeder Vorwand, aus seinem stickigen Büro herauszukommen, war ihm recht. Er rief Lucille an und stellte es ihr frei, ihn in ihrer Wohnung zu empfangen oder auf der Hauptwache zu treffen. Ohne zu zögern entschied sie sich für die Wache. Sie wollte keine Polizei im Haus.
    Man hatte Blaser einen Schreibtisch in einem Großraumbüro überlassen. Dort wartete er auf die Zeugin, die bereits zehn Minuten überfällig war. Das war kein gutes Zeichen. Zeugen kamen pünktlich oder gar nicht.
    Aber gerade als er seine Reiseschreibmaschine zuklappte – mit den Computern, die sie hier benützten, kannte er sich nicht aus –, kam sie. Wenn man von ihren Augen absah, glich sie einer Inderin. Ihre Figur, ihre Haare, ihr Teint, ihre Kleidung. Aber von ihren Augen abzusehen war nicht leicht. Blaser, der in seinem Polizistenleben schon Abertausende von Beschreibungen abgegeben hatte, wußte nicht, wie er die Farbe nennen würde. Wasserblau? Weißblau? Himmelblau? Am ehesten: unbeschreiblich blau.
    »Entschuldigen Sie mein Zeitgefühl, ich bin erst seit ein paar Tagen aus Indonesien zurück«, sagte sie zur Begrüßung. Blaser bot ihr einen Stuhl an und nahm ihre Daten auf. Dann kam er zur Sache.
    »Sie waren Anfang Mai bei Joe Gasser in Begleitung eines Mannes mit einem schwarzen Jaguar.«
    Ihr Zögern war kurz. »Wer sagt das?«
    Blaser lächelte und nahm die Brille ab. »Befragungen laufen nicht so, Frau Roth.«
    Lucille lächelte jetzt auch. Es kam nicht oft vor, daß sie jemand Frau Roth nannte.
    »Ich habe eine Aussage, daß Sie in Begleitung eines Mannes mit einem schwarzen Jaguar bei Joe Gasser waren, und muß wissen, wer dieser Mann war.«
    »Weshalb müssen Sie das wissen?«
    »Wie gesagt, das hier ist eine Befragung. Ich stelle die Fragen, Sie geben die Antworten.«
    Lucille schwieg.
    Sie gefiel Blaser. Er wollte sie nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen. Deshalb sagte er: »Es geht nicht um Drogen. Von mir aus können Sie Pilzchen essen, bis Ihnen schlecht wird. Ich untersuche die Brandsache.«
    »Und wegen der Brandsache müssen Sie wissen, wer der Mann mit dem Jaguar war?«
    Blaser nickte. »Kurz vor Ausbruch des Brandes wurde beim Fichtenhof ein schwarzer Jaguar gesehen.«
    Sie runzelte die Stirn. »Das war bestimmt ein anderer.«
    »Das nehme ich auch an. Aber ich muß es genau wissen.«
    Als Lucille ihm den Namen sagte, war auch er überzeugt, daß es sich um einen anderen Jaguar handeln mußte.
    Trotzdem interessierte es ihn, was ein prominenter Wirtschaftsanwalt in mittleren Jahren mit einem jungen Mädchen bei einem alten Drogenhippie verloren hatte.
    Urs Blank hatte sich den ganzen Monat kaum in der Kanzlei blicken lassen. Er verbrachte die meiste Zeit in den Wäldern. Er probierte verschiedene Arten von Lagern aus: komfortable, wie in seiner zweiten Nacht, improvisierte aus Blattwerk und einer einzigen Blache, natürliche in Höhlen und Felsspalten. Manchmal kroch er an einer Stelle, die ihm gefiel, einfach in seinen Schlafsack, den er mit einem wasserdichten Biwaksack vor Tau und Regen schützte.
    Als Notproviant nahm er nur ein paar Schokoriegel und Biskuits mit. Er besaß den Ehrgeiz, sich vom Wald zu ernähren. Er aß Pilze, Kohldisteln, Engelwurz und die Beeren, die gerade reif waren: Walderdbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren. Einmal hatte er beim Versuch, eine Forelle zu angeln, einen Weißfisch gefangen, den er vor lauter Gräten kaum essen konnte.
    Otts Wechsel zu Geiger, von Berg, Minder & Blank war nur teilweise befriedigend. Die Leute, die man ihm zugeteilt hatte, arbeiteten zwar gut, und er hatte dank seinen besonderen Beziehungen zu Geiger sogar eine Beteiligung an einem sehr vielversprechenden Börsengeschäft erreicht. Aber was Blank anging, kam er nicht weiter.
    Er hatte zwar keinen bestimmten Plan gehabt, als er seine sämtlichen Mandate dort plazierte, er hatte nur gewußt, daß er Blank dafür bestrafen würde, daß er sich in ihm getäuscht hatte. Und er war sicher gewesen, daß er Blank von innen mehr schaden konnte als von außen.
    Aber jetzt, wo er drinnen war, war Blank draußen. Er schien jegliches Interesse an seiner Arbeit verloren zu haben. Noch kein einziges Mal war er ihm begegnet, wenn er zu seinen regelmäßigen Besprechungen in der Kanzlei erschien. Wenn Ott sich bei den anderen Partnern nach ihm erkundigte, wich man aus.
    Blank entzog sich. Wie ein Wild, das merkt, daß die Jagd auf es eröffnet ist.
    Auch Alfred Wenger machte sich Gedanken über Urs

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