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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Anfang eines Männerchors.
    Urs Blank öffnete die Tür. Über ihm klingelte ein Glockenspiel. Es roch nach Milch und Käse. Hinter dem Verkaufstresen lagen Brote in verschiedenen Größen. Von der Decke hingen Werbedisplays. Sie drehten sich im Wind, den Blank hereingelassen hatte. Niemand kam.
    Blank wartete. Er öffnete und schloß die Tür, um das Glockenspiel noch einmal in Aufruhr zu bringen. Niemand kam.
    »Hallo!« wollte er rufen. Aber er brachte nur ein Krächzen zustande. Er hatte seine Stimme über zwei Monate nicht gebraucht.
    Er räusperte sich. Jetzt hörte er im Hintergrund die Spülung einer Toilette, dann Schritte. Eine schwere ältere Frau in einer weißen Schürze erschien hinter der Theke. »Was darf’s sein?« fragte sie vorwurfsvoll.
    Blank kaufte drei Kilo Salz, zwei Kilo Pflanzenfett, drei Kilo Halbweißmehl, vier Kilo Zucker, drei Tafeln Schokolade, zwei Paar Landjäger, fünf Seifen, Zahnpasta, Streichhölzer, Schnur und Batterien für seine längst erloschene Taschenlampe.
    »Hoffentlich haben Sie es nicht weit«, bemerkte die Frau, als sie Blank zusah, wie er seine Einkäufe im Rucksack verstaute, der danach vierzehn Kilo mehr wog.
    »Nein, ich habe den Wagen vorne in Burren«, antwortete Blank. Das gehörte zu seinem Täuschungsmanöver: Den Weg nach Burren, dem etwas kleineren Dorf im nächsten Tal, nehmen, sich an einer geeigneten Stelle in die Büsche schlagen und durch den Wald zum Wanderweg zurücksteigen.
    »Ach, in Burren«, wunderte sich die Frau. »Dort hätte es auch eine Molkerei gegeben.«
    Blank verließ den Laden. Als das Klingeln des Glockenspiels hinter ihm verstummte, sagte eine Stimme: »Grüß Gott.« Auch vorwurfsvoll.
    Neben dem Motorrad stand ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er trug einen speckigen Jägerhut und rauchte eine Brissago. Blank erwiderte den Gruß und ging weiter.
    Weiter oben beim alten Schulhaus, wo die Straße nach Burren abzweigte, wandte er sich um. Der Mann schaute ihm immer noch nach. Blank beschlich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.
    Eines Nachts wurde Blank von einem gespenstischen Lärm geweckt. Wie das Brüllen eines in einer Röhre gefangenen Bären. Bald klagend, bald drohend, bald wütend, bald resignierend.
    Blank hatte sich an die unheimlichen Nachtgeräusche des Waldes gewöhnt. Das triste Bellen des Fuchses, das ärgerliche Schnalzen des Eichhörnchens, das bekümmerte Pfeifen der Haselmaus, das bange Rufen des Waldkauzes brachten ihn nicht mehr um den Schlaf. Aber diese Laute aus einer anderen Welt und Zeit beunruhigten ihn. Er kroch aus dem Schlafsack, zog sich an und kletterte dem Seil entlang zu seiner Aussichtsplattform hinauf.
    Es war eine kühle, sternenklare Septembernacht. Im Osten stand der abnehmende Mond über den stillen Wäldern der gegenüberliegenden Talseite. Es mußte kurz nach Mitternacht sein. Seine kleine Lichtung kam ihm vor wie der einzige sichere Ort auf der Welt. Das unheimliche Röhren machte ihm angst.
    Röhren. Das war es. Ein brünftiger Rothirsch, der die Welt herausforderte, es mit ihm aufzunehmen.
    Blank blieb auf seinem Ausguck stehen und lauschte dem Knören, Trenzen und Orgeln, bis ihn der kühle Nachtwind zurück in den Schlafsack trieb.
    Am nächsten Morgen, als Blank beim Frühstück saß – Pfannkuchen, Ahornsirup und Tee aus Wasserminze –, hallten Schüsse durch den Wald. Nicht das ferne Knallen, das jeweils an Sonntagen vom Schießstand im Tal unten heraufklang, oder das vereinzelte Krachen der Flinte eines Fuchsjägers. Diesmal waren es laute, peitschende, klar umrissene Detonationen, ganz in der Nähe. Die Jagd hatte begonnen.
    Blank hatte gehofft, dieser steile Wald mit seiner schwer zu durchdringenden Strauchschicht und seinem zerklüfteten Blockschutt würde die Jäger abhalten. Aber es war ihm auch nicht entgangen, wieviel Wild die Ruhe, die ihm das unzugängliche Terrain verschaffte, ausnutzte.
    Die Schüsse so nahe bewiesen ihm, daß auch die Jäger davon wußten.
    Von den Jägern hatte er nicht viel zu befürchten, sein Versteck war gut getarnt. Aber die Hunde, die nach den ersten Schüssen zu kläffen begannen, machten ihm Sorgen. Der Wind blies in ihre Richtung.
    Er löschte die Glut mit Erde und bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor. Aber schon bald entfernte sich das Gebell. Eine Stunde später waren die Vogelstimmen wieder das lauteste Geräusch im Wald.
    Blank verbrachte den Rest des Tages damit, Pemmikan herzustellen. Er zerrieb getrocknetes Rehkitz- und

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