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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Waldschrat.
    Irgendwann hörte der Wald auf. Der Nebel war hier so dicht, daß er nur ein paar Meter weit sehen konnte. Die Wiese, auf der er ging, war frisch gemäht.
    Nach etwa hundert Metern traf er auf einen Feldweg. Er blieb stehen, schaute auf den Kompaß und folgte dem Weg in westlicher Richtung. Auf einmal stand er vor einem Heuschober.
    Blank ging um das Gebäude herum. Auf der Rückseite führte eine Rampe zu einer Tür. Sie war nicht verschlossen. Er trat ein. Der Duft von Heu empfing ihn.
    Er zog trockene Sachen an und breitete die nassen auf dem Heu aus. Er aß ein paar Cracker und einen Müesliriegel und trank Wasser aus seiner Feldflasche. Danach schlüpfte er in den Schlafsack. Wenn ihn hier jemand fand, würde er aufgeben. Wenn nicht, würde man weitersehen.
    Der Regen trommelte auf die Ziegel. Es roch nach den Sommerferien vor fünfunddreißig Jahren, als noch alles vor ihm lag.
    Blank hatte seinen Abgang nicht von langer Hand geplant. Aber er hatte oft in den Tagen und Nächten im Wald überlegt, wie er es anstellen würde, wenn er alles hinter sich lassen und ganz in den Wald ziehen wollte. Deshalb war alles, was er tat, zwar spontan, aber genau durchdacht. Der Gründelsee, der im Ruf stand, seine Ertrunkenen zu behalten; die Survival-Ausrüstung, die er zurückgelassen hatte; die Papiere, das Geld und die Kreditkarten, ohne die er nicht weit kommen würde. Und der Abschiedsbrief mit seinem lückenhaften Geständnis und seiner Bitte um Vergebung.
    Falls es noch einen Beweis brauchte, daß er tot und nicht einfach untergetaucht war, gab es da noch sein Konto: Wer würde untertauchen und über drei Millionen Franken auf der Bank liegenlassen?
    Er hatte sich allerdings auch ein Hintertürchen offengelassen: Neben etwas über dreitausend Franken in kleinen Noten hatte er die Kreditkarte behalten, die über sein Konto in Irland abgerechnet wurde. Es hatten sich dort Honorare von etwas über hunderttausend Franken angesammelt, von denen die Steuer nichts wußte und über die keine Korrespondenz geführt wurde. Auch seinen Zweitschlüssel zur Kanzlei hatte er mitgenommen. Es war ihm nicht klar, weshalb.
    Am Morgen des dritten Tages nach seinem Verschwinden wurde Blank vom Motor eines Kleintraktors geweckt. Er kroch aus dem Schlafsack, raffte seine Sachen zusammen und versteckte sie und sich selbst im Heu. Der Motor verstummte. Er hörte Stimmen. Zwei Männer unterhielten sich im bedächtigen Dialekt der Gegend. Sie kamen näher. Die Tür knarrte. Licht drang durch das Heu vor Blanks Gesicht. Er hielt den Atem an.
    »Ich sehe nichts, und du?«
    »Nichts.«
    »Sind eben noch Ziegel von früher.«
    Die Tür knarrte, es wurde wieder dunkler. Kurz darauf sprang der Traktor an und entfernte sich. Als er nicht mehr zu hören war, fiel Blank die Stille auf. Es hatte aufgehört zu regnen.
    Erst jetzt fiel ihm ein, daß er hatte aufgeben wollen, falls man ihn hier fand.
    Zwei Tage später hatte er die kleine Lichtung wiedergefunden und begonnen, sich häuslich einzurichten. Er baute sich einen festen Unterstand mit einem Giebeldach aus einer dicken Schicht Fichtenzweigen. Er konstruierte einen kleinen Tisch aus den Stämmchen junger Tannen. Er baute eine Felsspalte zu einer kühlen Vorratskammer aus. Er erleichterte den Aufstieg zur Plattform auf dem Felsen. Er tarnte den Zugang durch das Dickicht.
    Wenn er nicht mit Arbeiten am Lager beschäftigt war, erkundete er die Umgebung. Er entdeckte einen Weg auf die Felsterrasse, die in einer senkrechten Wand etwa achtzig Meter zu seiner kleinen Lichtung abfiel. Er stieß auf einen Bach, der sich an einer Stelle zu einem Bassin staute, groß genug für ein Bad. Und er fand die Böschung, wo die Kaninchen hausten.
    Blank hatte immer gewußt, daß er jagen mußte, wenn er sich auf Dauer vom Wald ernähren wollte. Jagdpraxis war eines der vielen Fächer seiner Privatstudien über den Wald gewesen. Aber als er sein erstes Kaninchen erwischte, hatte er sich doch gewundert, wie wenig es ihm ausmachte, das Tier zu töten und auszunehmen. Er hatte nie Blut sehen können und aß jahrelang kein Fleisch, nachdem er als Kind auf einem Bauernhof Zeuge einer Hausschlachtung geworden war. Jetzt nahm er Kaninchen aus, als entfernte er die Batterien aus einem Kofferradio.
    Er registrierte diese Gefühlskälte mit Interesse und schrieb sie dem Bläuling zu. Hier im Wald konnte sie sich nicht gegen seine Mitmenschen richten und ihn Dinge tun lassen, die er nachher mit Anfällen von

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