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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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setzte einen Schlag aus, aber er spürte, daß das Schlimmste überstanden war. Jeden Tag würde es besser gehen. Bald würden ihn die Schuldgefühle in Ruhe lassen.
    Und irgendwann würde es wieder passieren. Irgend jemand würde ihm im Weg stehen. Irgend jemand würde ihn aufstöbern in seinem Versteck vor sich selbst. Wenn ihn nicht vorher der Winter ins Tal trieb wie ein hungriges Tier.
    Der Wald konnte ihn nicht wieder zu dem machen, der er früher war. Er konnte ihm nur helfen, den, der er geworden war, zu ertragen. Wenn er wieder der Blank von früher werden wollte, mußte er sich selbst helfen.
    Er stand auf. Die Stelle, wo die Haselmaus gelegen hatte, war leer. Die Stille fiel ihm auf. Kein Helikopter, kein Hundegebell.

15
     
    Ende September war keine Saison für eine Jugendherberge mitten in der Stadt. Im Wintergarten der Villa aus der Jahrhundertwende spielten zwei finnische Teilnehmer eines Elektroingenieur-Seminars der Technischen Hochschule eine Partie Tischtennis. Das Tick-Tock der Bälle störte eine einsame kanadische Rucksacktouristin, die im Gemeinschaftsraum Briefe schreiben wollte. Die Herbergseltern hatten sich hinter die Tür verzogen, auf der »Privat« stand. Sie erwarteten für heute keine Gäste mehr.
    Doch kurz vor drei klingelte es. Sami, der Herbergsvater, öffnete einem Mann in mittleren Jahren. Er sah aus wie viele der Backpacker, die den Sommer über kamen: schlank, halblanges Haar, mit grauen Fäden durchzogener Bart, gut eingetragene Sportkleidung, Rucksack. Und wie die meisten Neuankömmlinge konnte er eine Dusche brauchen.
    »Haben Sie auch Einzelzimmer?« fragte er.
    »Wenn es dich nicht stört, daß fünf leere Betten drin stehen«, grinste Sami.
    Der Mann trug sich ein als Werner Meier. Bei Landsleuten bestand Sami nicht auf einem Paß. Er ließ sich die neunzehn Franken für die Übernachtung bezahlen, gab ihm den Zimmerschlüssel, den Hausschlüssel und ein Exemplar der Herbergsordnung. »Mir ist egal, wann du nachts nach Hause kommst, solange du keinen Radau machst.«
    Kurze Zeit später hörte er Werner Meier aus dem Haus gehen. Gegen Abend kam er mit Einkaufstüten eines billigen Warenhauses zurück.
    Als Meier später in neuen Halbschuhen, Hosen, Hemd, Krawatte und Blazer die Herberge verließ, waren die Herbergseltern längst im Bett.
    Die Kanzlei war von der Jugendherberge zu Fuß in einer knappen Viertelstunde zu erreichen. Es war ein Uhr, das letzte Tram im Depot, die meisten Lokale geschlossen, ein paar Taxis noch unterwegs.
    Beim Eingang stand auf einem diskreten Messingschild immer noch »Geiger, von Berg, Minder & Blank«. Die drei Stockwerke, in denen die Büros lagen, waren dunkel.
    Als Blank die Tür aufschloß, fuhr ein Taxi vorbei. Er ließ sich nicht stören. Ein Geschäftsmann, der mitten in der Nacht ins Büro ging, war in dieser Stadt nicht verdächtig. Selbst wenn er etwas lange Haare und einen Bart trug.
    An der Tür seines Büros stand »Dr. Christoph Gerber«. Er schloß sie auf und hinter sich wieder zu. Der Raum war noch genauso eingerichtet wie früher. Nur an der Wand hingen englische Jagdszenen. Einen kurzen Moment beschäftigte Blank die Frage, was wohl mit seinem David Hockney geschehen war.
    Er setzte sich an den Schreibtisch und stellte erleichtert fest, daß auch der Computer noch der gleiche war, den er benutzt hatte.
    Die Computer von Geiger, von Berg, Minder & Blank waren mit dem Sprengstoff vieler Geschäftsgeheimnisse angesehener Unternehmen geladen. Deswegen war der Zugang zu den Geräten mit einem persönlichen Paßwort geschützt. Es wechselte in unregelmäßigen, zufälligen Abständen.
    Blank war es zu umständlich gewesen, sich immer wieder neue Codes zu merken. Er hatte sich von einem Techniker der Computerfirma einen hot key installieren lassen. Damit konnte er mit Hilfe einer nur ihm bekannten Tastenkombination, die er beim Einschalten des Geräts drücken mußte, die Paßwortabfrage umgehen. Die Kombination lautete »kotz« und stammte aus einer Zeit, als er noch nicht alle seine Gedanken sofort in die Tat umsetzte.
    Er hielt die vier Buchstaben niedergedrückt und startete das Gerät. Das Laufwerk surrte, und der Bildschirm wurde hell. Wenn jemand seinen Trick bemerkt hatte, würde der Computer gleich die Frage »Paßwort?« stellen.
    Eine Schrift erschien am Bildschirm. »Hallo Urs.«
    Blank nahm einen Zettel aus der Brusttasche seines neuen Hemdes. Es war die Notiz aus Joe Gassers Ringblöckchen. Er legte sie neben die

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