Die dunkle Seite des Mondes
Gewissensbissen bezahlen mußte.
In den ersten Nächten, wenn ihn das Tosen des Windes in den Wipfeln oder das Krachen eines Sommergewitters nicht schlafen ließ, hatten ihn noch Augen angestarrt: die Augen von Troll auf seinem Schoß, die Augen von Dr. Fluri in der Waldruhe, die vom Maschinenbauzeichner im Coupé, die vom Junkie beim Fitneßparcours, die Augen von Joe Gasser in der Bauernküche.
Aber die Bilder verblaßten. Mit jedem Tag, den er im Wald verbrachte, wuchs in ihm wieder die Gewißheit, daß nichts zählte außer ihm selbst.
14
In der Wirtschaftsmetropole, eine knappe Autostunde vom Wald, in dem Urs Blank wohnte, nahmen die Dinge ihren Lauf.
Die Fusion der CONFED mit BRITISH LIFE , SECURITÉ DU NORD und HANSA ALLGEMEINE war trotz des Informationslecks über die Bühne gegangen. Einem energischen Dementi aller Beteiligten waren zwei Wochen Funkstille gefolgt, die mit einer aus dem großen Saal des Imperial nach London, Düsseldorf und Paris übertragenen Pressekonferenz beendet wurde. Die Entstehung des weltweit größten Versicherungskonzerns beherrschte drei Tage lang die Schlagzeilen. Danach wurden sie von Spekulationen über massive Insidergeschäfte abgelöst.
An den Hauptbörsen aller vier beteiligten Länder waren fast gleichzeitig mit der Veröffentlichung des Fusionsgerüchts im großen Stil Aktien der Fusionskandidaten gekauft worden. Es gab Stimmen, die hinter der Informationspanne eine gezielte Indiskretion vermuteten, mit der sich allenfalls später auffällige Aktienbewegungen rechtfertigen ließen.
Christoph Gerber hatte sich als rechte Hand von Dr. Geiger bei der Fusion hervorragend bewährt. Anton Huwyler begann bereits Druck zu machen, man solle doch ihn an Stelle von Blank in den Briefkopf aufnehmen. Etwas, das Geiger, von Berg und Minder vorderhand nicht zu tun beabsichtigten. Nicht nur aus Gründen der Pietät.
Lucille hatte sich von Arshad getrennt. Er hatte seinen gequetschten Kehlkopf und ihr schlechtes Gewissen schamlos ausgenützt. Drei Wochen war er ihr auf der Tasche gelegen und auf die Nerven gegangen. Dann hatte sie ihn vor die Tür gesetzt. Und wo sie schon dabei war, hatte sie sich auch gleich der Sandelholzräucherstäbchen entledigt. Sie erinnerten sie an Urs Blank.
Evelyne Vogt versuchte sich in ihrem seltsamen Status zurechtzufinden: als Witwe von einem, der vielleicht noch lebte und mit dem sie nicht mehr richtig zusammen, von dem sie aber auch noch nicht richtig getrennt gewesen war. Der Anwalt, der sie bei der Trennung von Blank hätte vertreten sollen, half ihr jetzt über dessen Verlust hinweg.
Alfred Wenger beschäftigte manchmal die Frage, ob er alles getan hatte, um Urs Blank zu helfen. Vielleicht, sagte er sich, wäre er konsequenter gewesen, wenn es sich bei Urs nur um einen Patienten und nicht auch noch um einen Freund gehandelt hätte. Er nahm weiterhin jeden Mittwoch im Goldenen sein Mittagessen ein. Zwischen ihm und Herrn Foppa bestand ein stilles Einvernehmen, das zweite Gedeck nicht abzuräumen.
Rolf Blaser behielt die Akte Joe Gasser offen, bis Blank offiziell für tot erklärt wurde. Eine reine Formsache. Für ihn war der Fall erledigt.
Pius Ott brauchte ein paar Tage, bis er sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, daß Blank ihm durch die Lappen gegangen war.
Urs Blank verbrachte seine Tage damit, seinen Kalorienbedarf zu decken. Er versuchte nach Möglichkeit seinen Vorrat an gefriergetrockneten und dehydrierten Gerichten zu schonen und vom Wald zu leben. Jetzt, im September, gab dieser viel her. Er sammelte Hasel- und Buchennüsse für seinen Fett- und Proteinhaushalt. Er verarbeitete Felsenbirnen, Berberitzen und Hundsrosen zu vitaminreichen Kompotten. Er verbrachte Stunden damit, Sirup aus Feldahornblättern zu kochen.
Und er sammelte Pilze. Am Anfang nahm er alles, was er anhand seines Pilzatlasses als eßbar identifizieren konnte. Aber als er nach und nach die Ziegenlippe, den orangeroten Graustieltäubling, den Mönchskopf, den Reifpilz, das Kuhmaul, den filzigen Gelbfuß und den Pfifferling entdeckte, wurde er wählerisch. Es kam vor, daß er ein Grüppchen Perlpilze stehenließ, weil ihm sein Gefühl sagte, daß er in der Nähe auf Trompetenpfifferlinge stoßen würde.
Er briet sich Fichtenreizker in Kaninchenfett oder grillte halbierte Steinpilze über der Glut, bis sie außen trocken und innen cremig waren. Was er nicht essen konnte, trocknete er an der Sonne oder, wenn die sich rar machte, auf einem Stein nahe beim
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