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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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hatten die Felskante erreicht. Blank blieb stehen. Ein Tal tat sich unter ihnen auf. Es war zersiedelt von Dörfern. Um deren Kern waren Neubausiedlungen entstanden, dem Stil der alten Bauernhäuser nachempfunden.
    »Sehen Sie«, sagte Blank.
    »Was?«
    Blank gab Lorenzo Brunner einen kräftigen Stoß in den Rucksack. Der stieß einen erstaunten Schrei aus und stürzte in die Stille.
    Tief unten hörte Blank das Bersten von Holz und das Krachen von Geröllbrocken, die der schwere Mann bei seinem Aufprall mitgerissen hatte.
    Bella stand schwanzwedelnd am Abgrund, schaute hinunter, blickte zu Blank hoch, bellte und schaute wieder hinunter.
    »Down!« befahl Blank. Die Hündin gehorchte. Er ging zurück an die Stelle, wo er den Jäger gestellt hatte, bückte sich und hob das Taschentuch mit den Pilzen auf.
    Als Blank zum Lager zurückkam, verkroch er sich in sein Zelt und wartete auf die Schuldgefühle.
    Sie kamen wie immer in drei Wellen. Die erste war die Weigerung zu akzeptieren, was er getan hatte. Er versuchte sich einzureden, daß es einfach nicht passiert war. Aber immer, wenn er schon fast die Realität aus seinem Bewußtsein verdrängt hatte, holte sie ihn wieder ein. Wie ein böser Traum, der keiner war.
    Die zweite Welle war die Auseinandersetzung mit seiner Tat. Immer wieder quälte er sich mit den Details. Die Jägerkleidung, die aussah, als trage Dr. jur. Lorenzo Brunner sie zum ersten Mal; sein Eifer, alles richtig zu machen; die Treuherzigkeit, mit der er ihm bis zum Abgrund gefolgt war; das Erstaunen in seinem Schrei; Bella, die wohl immer noch an der Felskante wartete.
    Die dritte Welle war die lähmende Depression. Er wußte, daß es kein Mittel dagegen gab, außer sich ihr ganz zu ergeben und zu hoffen, daß allmählich die Einsicht wieder überhandnahm, daß nichts zählte außer ihm.
    In diesem Stadium lag Blank in seinem Schlafsack, weder wach noch schlafend, und zwang sich, ab und zu etwas Wasser zu trinken und einen Bissen Pemmikan zu essen, um einigermaßen bei Kräften zu bleiben.
    Er wußte nicht, wie lange er so dagelegen hatte, als er neben sich ein Rascheln hörte. Er öffnete die Augen und sah eine Haselmaus, die an einem Rest Pemmikan knabberte. Blank hob die Hand und schlug neben sich auf den Boden. Die Maus hatte die Bewegung gesehen und war losgerannt, direkt unter Blanks Hand.
    Blank nahm ihren Schwanz zwischen Daumen und Zeigefinger und warf sie aus dem Zelt. So kraftlos war sein Wurf, daß der kleine Kadaver keine zwei Meter vor dem Zelteingang landete.
    Als Blank das nächste Mal die Augen öffnete, war es Nacht. Er starrte auf das Zeltdach dicht über ihm.
    Langsam begannen sich die Nähte dunkel abzuzeichnen. Er schloß die Augen wieder.
    Er wurde von Hundegebell geweckt. Vielleicht suchte man nach Lorenzo Brunner. Falls sie dabei auf ihn stoßen sollten, hatte er Pech gehabt. Oder Glück.
    Als es nicht mehr zu vermeiden war, kroch er aus dem Zelt und suchte die Latrine auf. Als er sich wieder in den Schlafsack quälte, sah er die tote Maus vor dem Zelt.
    Er schloß die Augen und lauschte dem Hundegebell. Es kam näher.
    Ein Zirpen ganz in der Nähe drang in seinen Halbschlaf. Blank stützte sich auf den Ellbogen und schaute hinaus. Das Geräusch kam von der toten Haselmaus. Zwei schwarze Käfer hatten sie entdeckt. Der größere war etwa zwei Zentimeter lang. Beide hatten orangegelbe Streifen auf den Deckflügeln. Totengräber.
    Die beiden Käfer scharrten in der Erde unter der Maus. Hoch oben knatterte der Rotor eines Helikopters.
    Bis es wieder dunkel wurde, starrte Blank auf die stille tote Maus und ihre emsigen Totengräber. Dann schloß er die Augen und stellte sich vor, er sei es, den die schwarzgelben Käfer verscharrten. So schlief er ein.
    Am Morgen war die Maus im weichen Waldboden schon halb versunken. Blank trank etwas Wasser, aß ein Stück Pemmikan und setzte seine Meditation fort.
    Er war die Maus. Unter sich spürte er das Krabbeln der Käfer und die Kühle der Erde.
    Langsam sank er ein. Durch die duftende Schicht trockener Fichtennadeln. Durch die modrige Schicht der von Pilzfäden durchzogenen Streudecke. Durch die erdige Schicht aus schwarzem Humus. Immer tiefer, bis er auf Felsen stieß.
    Über ihm schloß sich die Erde wieder. Er wurde Teil des Waldes.
    Am Nachmittag erwachte Blank. Er richtete sich auf und merkte, daß es ihm besserging. Er war zwar etwas benommen, aber das Blei in den Gliedern war weg.
    Lorenzo Brunner kam ihm in den Sinn. Blanks Herz

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