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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Feuer.
    Was er sonst noch an Mineralstoffen und Vitaminen brauchte, holte er sich auf Feldern und Lichtungen. Er verließ dann am späten Nachmittag sein Basislager mit leichtem Gepäck. In der Nähe eines Waldrandes richtete er sich für die Nacht ein. Beim ersten Morgengrauen fühlte er sich sicher genug, den Wald zu verlassen. Er machte sich auf die Suche nach Wiesenklee, Gänseblümchen, Schafgarbe und Löwenzahn für seine mit Feldthymian und Hirtentäschelkraut gewürzten Salate. Die Zeit des Alpenmilchlattichs – seines Lieblingssalates – war leider vorbei. Dafür gab es jetzt die Wurzeln des Wiesenbocksbart, die wie Schwarzwurzeln schmeckten. Auch die Wurzeln der Wegwarte – wenn er die Bitterstoffe abkochte – und die des Löwenzahns schmeckten gut in seinem Gemüseeintopf aus Leimkraut und Brennesseln. Manchmal wagte er sich in die Nähe von Ställen, die verlassen schienen. Dort wuchs der Gute Heinrich, der wilde Ahne des Spinats.
    Blank hätte wohl auch mit weniger Aufwand überleben können. Aber die Betriebsamkeit, die er an den Tag legte, half ihm, sich von sich selbst abzulenken. Solange es ihm gelang, sein ganzes Denken und Handeln auf seinen Körper auszurichten, schaffte er es, seinen Geist aus dem Spiel zu lassen. Er arbeitete mechanisch bis zum Umfallen für sein Überleben, damit die Zeit, die er vor dem Einschlafen mit dem Verscheuchen von Gedanken zubringen mußte, möglichst kurz war.
    Als er während einer seiner Vitaminexkursionen mit dem Kaninchennetz voller Grünzeug über die noch taunasse Wiese zum Wald zurückging, fiel ihm ein Grüppchen Pilze auf. Sie wuchsen auf den Überresten eines Kuhfladens, keine zehn Zentimeter hoch, mit kleinen braunen Hüten, die wie Mützchen aussahen, mit einem winzigen Zipfel an der Spitze. Als er einen berührte, fühlte er sich klebrig an.
    Die Pilzchen kamen Blank bekannt vor. Als er sie später im Lager mit dem Pilzatlas bestimmte, stellten sie sich als psilocybe semilanceata heraus.
    Die Spitzkegeligen Kahlköpfe, die in Joe Gassers Tipi vor langer Zeit für soviel Heiterkeit gesorgt hatten.
    Blank legte sie zum Trocknen auf einen warmen Stein beim Feuer und schaute zu, wie sie langsam gelb wurden.
    So abwechslungsreich Blanks Speisezettel war, er besaß ein paar Mankos, die sich im zweiten Monat seines Waldlebens immer stärker bemerkbar machten: Fett, Mehl und Zucker.
    Beim Fett behalf er sich mit Nüssen und dem Fett seiner Jagdbeute, hauptsächlich Kaninchen und gelegentlich ein Rehkitz. Seinen Zuckerbedarf konnte er halbwegs mit Waldfrüchten, den Stengeln von wildem Braunwurz und dem Sirup der Ahornblätter decken. Aber was er jeden Tag mehr vermißte, war Brot. Und neuerdings auch Salz.
    Zu seiner Grundausrüstung hatte ein gefüllter Salzstreuer und eine Kilopackung Kochsalz gehört. Es war ihm immer klar gewesen, daß dies der Schwachpunkt seines Überlebensplans war und er früher oder später für Nachschub sorgen mußte. Um diesen Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern, war er damit sehr haushälterisch umgegangen. Aber jetzt blieben ihm nur noch ein paar Gramm, die er seinem Körper in homöopathischen Dosen zuführte. Er entschloß sich, nach Rimmeln hinunterzugehen.
    Er kannte Rimmeln von seinem ersten Besuch in diesem Wald. Ein kleines, steiles Dorf, zu unspektakulär für den Tourismus und zu tief gelegen für die Bergbauernförderung. Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz vor dem längst nicht mehr benützten kleinen Schulhaus abgestellt. Er erinnerte sich vage an eine Molkerei, die bestimmt auch Dinge des täglichen Bedarfs verkaufte.
    Er brach früh am Morgen auf. Das Dorf wäre zwar in gut zwei Stunden zu erreichen, aber er plante einen Umweg. Er ging durch das unwegsame Gebiet, das er inzwischen gut kannte, bis er den Wanderweg erreichte. Er folgte diesem bis zur Abzweigung nach Rimmeln. Aber anstatt abzubiegen, ging er weiter geradeaus. Der Weg überquerte ein kleines, bewaldetes Tal. Dort verließ er ihn, folgte dem Bachbett gut zwei Kilometer, bis er auf die Landstraße stieß, die von Rothausen nach Rimmeln hinaufführte. Im Schutze eines Gebüschs wartete er bis neun – einer Zeit, zu der ein Wanderer, der den ersten Zug nach Rothausen genommen hatte, bequem in Rimmeln ankommen konnte.
    Es war ein Tag zum Heuen. Das Dorf lag wie ausgestorben da. Vor der Molkerei stand ein altes Militärmotorrad. In einem Zimmer, dessen offenes Fenster über der Ladentür lag, lief ein Radio. Das Ende eines Wetterberichts, der

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