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Die dunkle Seite des Mondes

Die dunkle Seite des Mondes

Titel: Die dunkle Seite des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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dunkle Vestibül. Die Tür mit der Aufschrift »Privat« öffnete sich einen Spalt. Der Kopf der Herbergsmutter wurde sichtbar. Blank nickte ihr zu, sie nickte zurück und schloß die Tür wieder.
    Als er das Bad in seinem Stockwerk betrat, saß die Kanadierin auf der Toilette und las. Sie schaute auf und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Blank entschuldigte sich und schloß die Tür. Er hatte das Schild übersehen, das dort hing. Ein Männchen, das mit zwei roten Balken durchgestrichen war. Darunter stand in drei Sprachen »Ich muß draußen bleiben«.
    Blank duschte im oberen Stock und ging in sein Zimmer. Er riß beide Fenster weit auf und legte sich in das Bett, das ihnen am nächsten lag. Er fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte vom Wald.
    Als er aufwachte, war es hell. Seine Uhr zeigte Viertel nach zehn. »Frühstück bis neun« hatte auf der Herbergsordnung gestanden.
    In einem Lebensmittelgeschäft in der Nähe kaufte er Brot, Käse, Mineralwasser und eine Tafel Schokolade. Damit zog er sich auf sein Zimmer zurück und begann die zweihundert Seiten zu studieren.
    Ein Teil der Dokumente bestand aus trip reports, Berichten von amerikanischen College-Studenten über ihre Erfahrungen mit psychoaktiven Pilzen. Sie glichen sich in Ton und Inhalt, handelten von Farbvisionen und plötzlichen Einsichten. Es war von Metamorphosen die Rede und von Begegnungen mit Engeln und Teufeln. Die meisten erinnerten Blank auf die eine oder andere Weise an seine eigenen Erfahrungen. Jemand beschrieb sogar die Erkenntnis, daß alles, was er bisher geglaubt hatte, falsch und nichts wichtig war. Und jemand hatte die Überzeugung gewonnen, Gott zu sein.
    Aber Blank stieß auf kein einziges Beispiel von jemandem, für den diese Erkenntnisse so tief und unumstößlich waren, daß sie von ihm Besitz ergriffen und ihn danach handeln ließen.
    Kurz vor Mittag betrat die Herbergsmutter das Zimmer. »Bleibst du noch eine Nacht?« erkundigte sie sich. Als Blank nickte, bat sie ihn, herunterzukommen und die zweite Übernachtung zu bezahlen.
    Am Nachmittag hatte er zwei Drittel des Materials durchgeackert, ohne auf etwas gestoßen zu sein, das ihm weiterhalf. Er stellte sich ans Fenster und starrte in die beiden mächtigen Weißtannen, die hinter der Villa standen. Ein blecherner Gartentisch rostete in ihrem Schatten. Er atmete tief durch und machte sich an die letzten vierzig Seiten.
    In einer langatmigen Abhandlung über die chemische Zusammensetzung von psilocybinhaltigen Pilzen fand er einen Hinweis auf MAOH s. Es handelte sich dabei um Stoffe, die zweierlei bewirkten: Erstens setzten sie die Enzyme außer Gefecht, die die Aminosäuren – und damit die meisten Drogen im Körper – abbauen. Und zweitens verstärkten sie die Wirkung von Psilocybin im Hirn.
    Der Autor warnte davor, zur Verstärkung der Wirkung von Pilzen MAOH s zu verwenden. Nicht nur, weil sie zusammen mit gewissen Nahrungsmitteln gefährliche Kreislaufkrisen hervorrufen könnten, auch weil ihr Zusammenwirken mit Psilocybin nicht erforscht sei. Trotzdem nannte er die bekanntesten MAOH s: Harmine und Harmaline, die in peganum harmala vorkämen.
    Blank erinnerte sich, irgendwo auf den Begriff Harmala-Samen gestoßen zu sein. Er fand ihn in einer Liste häufig gestellter Fragen zum Thema psychoaktive Pilze.
    Frage: »Gibt es eine Alternative zu Harmala-Samen?«
    Die Antwort bestand aus der üblichen Warnung vor der Kombination von Tryptaminen mit MAOH s. Dann folgte eine Aufzählung einiger Pflanzensamen, die MAOH s enthielten. Unter anderem die Samen der Ayahuasca und der Passionsfrucht und – allerdings nach schwer zu überprüfenden Berichten – ein mitteleuropäischer Pilz, conocybe caesia, ein äußerst seltenes Mitglied der Familie der Samthäubchen.
    Urs Blank ging die restlichen Seiten durch. Aber er fand nichts Bemerkenswertes mehr.
    Er faltete die wichtigsten Blätter zusammen. Die anderen packte er in eine seiner leeren Einkaufstüten und warf sie auf dem Weg zur Quartierkneipe in einen Abfallcontainer.
    Im verrauchten, lärmigen Lokal bestellte Blank eine Bratwurst mit Kartoffelpüree und Zwiebelsoße, etwas, von dem er im Wald manchmal geträumt hatte. Aber er brachte kaum einen Bissen herunter.
    »War es nicht recht?« fragte die Serviertochter, als sie den halbvollen Teller abräumte.
    »Doch«, antwortete Blank, »nur zuviel.«
    Als er in sein Zimmer kam, lagen auf allen Betten Gepäckstücke. »Eine Lehrlingsgruppe aus Dresden«, erklärte der

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