Die dunkle Seite
zu schließen.
Sofort zog ihre innere Abwehr dagegen auf. Aber diesmal hörte sie nicht auf die Stimmen, die ihr rieten, sich zu einem Punkt zusammenzuziehen und zu verschwinden. Sie schickte die Armada der Neins und Niewieders zurück in den Abgrund und hoffte, so bald nichts mehr von ihnen zu hören.
»Was haben Sie jetzt vor?« fragte sie nach einer Weile.
Er zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Haben Sie ein Zuhause?«
Sie hoffte, er würde die Frage nicht als Verletzung ihrer Vereinbarung sehen, aber er lächelte schwach und schüttelte den Kopf.
»Es gibt einen Ort, an dem ich mich aufhalte. Dann wieder bin ich an einem anderen. Das geht seit Jahren so.«
Veras Verstand mobilisierte seine letzten Reserven.
Klient, Klient, er ist ein ...
Laß ihn nicht die Kontrolle über dich ...
Niemand soll je wieder ...
Du hast schon einmal zugelassen ...
Besser einsam als ...
Sie startete den Wagen, legte den Gang ein und fuhr los.
»Was halten Sie von Prosecco?« fragte sie.
Er ließ zwei Ampeln verstreichen, bevor er sagte: »Ich halte viel davon, ihn nicht alt werden zu lassen.«
Sie steuerte den Wagen um den stillen begrünten Platz gegenüber der alten Synagoge, den viele Kölner für den schönsten Flecken der Stadt hielten, bog in eine Seitenstraße ein und parkte gegenüber der alten Dame. So hatte sie das Haus gleich nach ihrem Einzug getauft.
Die alte Dame stand freundlich da und ein wenig zurückgesetzt, wie es sich für vornehme alte Damen ziemte.
»Das ist gut«, gab Vera zurück. »Ich habe nämlich nichts anderes.
Wasser und Prosecco. Sie können wählen oder ablehnen.«
Bathge sah zu, wie sie den Schlüssel aus dem Schloß zog und das Steuerrad ein Stück drehte, bis die Lenkradsicherung einklickte, dann den Schlüssel in eine kleine schwarze Umhängetasche gleiten ließ und die Fahrertür öffnete.
Sie drehte sich zu ihm um.
»Worauf warten Sie ? Glauben Sie ja nicht, ich bringe Ihnen das Glas nach unten.«
Bathge lächelte. Dann stieg er ebenfalls aus.
»Es sind fünf Stockwerke und kein Aufzug«, gab sie zu bedenken.
»Ich bin Kummer gewohnt.«
Hintereinander stiegen sie die Treppen hoch, Bathge mit zwei Metern Abstand. Sicherheitsabstand? fragte sich Vera. Immer noch fand sich keine Zigarette in seinem Mundwinkel, und als sie die kleine Empore am Ende der obersten Treppe betraten und Vera aufschloß, war er plötzlich dicht hinter ihr, ohne sie zu berühren.
Dennoch spürte sie ihn.
»Kommen Sie rein.«
Sie ging ihm voraus und geradewegs ins Bad, wo sie sich kaltes Wasser ins Gesicht klatschte und sich so nah im Spiegel betrachtete, daß ihre Nasenspitze fast das Glas berührte.
Du bist verrückt!
Wie gut, daß du verrückt bist.
»Prosecco ist im Kühlschrank«, rief sie. »Im Schrank darüber finden Sie die Gläser. Ich bin sofort da.«
Mit klopfendem Herzen stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich. Ein Gefühl der Furcht beschlich sie, jetzt da rauszugehen und mit ihm zu trinken, und zugleich ein solch rasender Durst nach Nä‐
he, daß sie sich vorkam wie eine Wüste, rissig geworden durch die Kräfte der Einsamkeit.
Sie sah ihre Narbe und sah darüber hinweg. Ihre Hand streckte sich nach dem schlanken Escada‐Flacon, zögerte, zog sich zurück.
»Nun mal nicht übertreiben«, murmelte sie ihrem Spiegelbild zu.
Sie schnitten einander ein paar Fratzen, dann entließen sie sich gegenseitig in ihre Welten, eine so hypothetisch wie die andere.
Bathge erwartete sie.
Überraschenderweise war die Angst vollständig aus seinen Augen verschwunden.
Er stand in ihrem Wohnzimmer und betrachtete das einzige Selbstporträt, das sie hatte rahmen lassen, weil es ihr am gelungensten von allen schien. Auf dem schwarzlackierten japanischen Tisch standen zwei gefüllte Gläser und eine geöffnete Flasche. Vera überlegte, wann sie das letzte Mal ein solches Arrangement gesehen hatte. In dieser Wohnung jedenfalls nicht. Ihre One‐Night‐Stands hatten trinken können, soviel sie wollten, bevor sie ihnen freundlich die Wohnungstüre beschrieb, aber nie hatte sie mitgetrunken.
Sie nahm ihr Glas, gab ihm seines, stellte sich neben ihn und ließ ihren Blick das Bild erwandern, als sähe sie es das erste Mal.
Plötzlich kamen ihr Zweifel, ob es wirklich das beste war. Die Frau dort war sie, aber in welchem Moment ihres Lebens auf Papier gebannt?
War ein Moment ein Mensch?
Sie standen eine Weile davor.
»Van Gogh hat
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