Die dunkle Seite
aber nichtsdestoweniger exakt geplant. Die drei Bauchschüsse haben ebensosehr eine Bedeutung wie Solwegyns Tod im Feuer.«
Er sah Vera erwartungsvoll an. Sie nickte stumm.
»Mir kam also der Gedanke, daß der Mörder sich für etwas rächen will, das Üsker und Solwegyn verantwortet haben. Ob bewußt oder nicht, sei dahingestellt. Ich nehme weiter an, daß der Mörder vor unbestimmter Zeit selber dem Tod sehr nahe war, und zwar als Folge eben dieser drei Bauchschüsse. Und daß er zugleich enormer Hitze ausgesetzt war, vielleicht Verbrennungen davontrug.«
Oder in der Wüste gelegen hat, dachte Vera, während ihn die Sonne röstete. Menemenci hatte recht. Ihr gesichtsloser Feind stellte die Umstände seines eigenen qualvollen Beinahe‐Todes nach.
Aber all das traf auf Marmann zu.
Doch wieder Marmann.
Es war zum Verzweifeln. Wie man die Geschichte auch betrachtete, immer gab es einen logischen Bruch. Marmann und Lubold schienen ineinander zu verfließen.
Vera zuckte die Achseln.
»Die Frage, ob Marmann Opfer oder Täter ist, kann ich ebensowenig beantworten wie Sie«, sagte Vera.
Menemenci seufzte.
»Warum arbeiten Sie nicht endlich mit mir zusammen«, sagte er.
»Ich habe Ihnen jeden nur erdenklichen Beweis meines Vertrauens geliefert. Ich habe Sie Einblick in meine Ermittlungen nehmen lassen. Was glauben Sie, warum ich das alles tue? Herrgott noch mal!
Wollen Sie denn, daß noch mehr Unheil geschieht?«
Nein, dachte sie. Nein, ich will nicht.
Ich kann nicht!
Simon würde nie sein Einverständnis geben. Er würde sich der Polizei nicht offenbaren. Und solange sie mit ihm ...
Falsch, schalt sie sich. Solange ich für ihn arbeite. Simon Bathge ist mein Klient!
Menemenci sah sie an. Sein Blick war nicht mehr zornentbrannt wie noch vor wenigen Minuten. Er sandte eine stumme Bitte aus, ihm zu helfen.
»Ich kann nicht«, flüsterte Vera.
Er schüttelte den Kopf.
»Es war mein letzter Versuch«, sagte er. »Jetzt kann ich Ihnen nur noch raten, sich höllisch in acht zu nehmen.«
»Ich passe schon auf.«
»Vor mir«, sagte Menemenci unheilvoll. »Das nächste Mal nehme ich Sie fest. Und glauben Sie mir, ich finde einen Weg. Ich finde immer einen.«
Er nickte ihr kurz zu, stand auf und verließ grußlos den Raum.
13.10 Uhr. Bauturm
Nicole Wüllenrath saß im Cafe Bauturm, das neben einem Theater und den unbequemsten Stahlstühlen Kölns immerhin Frühstück bis drei Uhr morgens bot. Daran gemessen nahm sie das ihre um kurz nach eins relativ zeitig ein. Sie trank Milchkaffee, aß ein Käsesandwich und blätterte in der neuesten Ausgabe von Chip.
Sie hatte eine Freundin besucht, die seit einem halben Jahr in Intertown lebte und dort eine Firma für Mikroprozessoren leitete. Sie hätte die Freundin auch übers Netz besuchen können, aber sie kannten sich bereits aus der Zeit vor Intertown. Es gab Fälle, da machte es tatsächlich mehr Spaß, Menschen leibhaftig gegenüberzusitzen. In ihrem Fall verkehrten sie zu zweit wie vier. Zwei aus Intertown und die beiden aus Köln.
Sie hatten sich darüber amüsiert, zu zweit vier Freundinnen zu sein, dann aber ernstere Probleme erörtert. Intertown krankte an einer techniklastigen Infrastruktur. Zwar konnte dort jeder Schuster, Bäcker, Schneider oder Metzger werden. Die meisten allerdings eröffneten Grafikbüros, Studios zur Realisation virtueller Welten, Vernetzungsgesellschaften und Werbeagenturen. Es erwies sich als schwierig, einem neuen Intertown‐Bewohner, dessen technisches Interesse ihn überhaupt erst ins Netz geschleust hatte, klarzumachen, er solle Haare schneiden oder Türschlösser reparieren. Intertown wollte einfach nicht werden wie die reale Welt.
Sie waren zu keiner Lösung gelangt, außer der, zusammen ein Fitneßstudio zu eröffnen, in dem die Intertowner ihre Muskeln stählen konnten. Es gab bereits ein virtuelles Bodybuilding‐Programm.
Sie überlegten, wie man es verbessern könnte, dann ging Nicole, weil die Freundin eine Verbindung zu einem wichtigen Kunden hergestellt hatte. Er erschien auf dem Monitor als dicker Mann mit breitem Lachen, was außergewöhnlich war, weil sich die Intertowner im allgemeinen mit perfekten Körpern versahen.
Die Kellnerin brachte ihr einen Bananenjoghurt. Sie legte die Zeitschrift weg und begann geistesabwesend zu löffeln.
»Ist der Joghurt gut hier?« fragte eine Stimme.
Sie schaute auf. Ein Mann hatte sich zu ihr an den Tisch gesetzt und lächelte freundlich.
Sie nickte. »Schon ganz gut,
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