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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Blick ruhte eine Sekunde lang auf der Anschrift.
    ANDRE MORMON, PARIS
    »Muß ja wirklich ʹn verdammt reicher Onkel sein«, murmelte er.

15.25 Uhr. Bonn
    Stephan Halm bewohnte eine der stattlichen Villen in Poppeisdorf, von denen die meisten mittlerweile leerstanden. Die Mietpreise in dieser Gegend sanken beständig. Bonn wurde wieder zu dem, was es gewesen war, bevor man beschlossen hatte, eine Kleinstadt zur Hauptstadt zu machen.
    Vera schellte. Eine gepflegte Frau Ende fünfzig öffnete und schenkte ihr ein herzliches Lächeln.
    »Ah, ich weiß!« sagte sie. »Sie sind die Detektivin.«
    Vera schaute sich um. Sie befand sich in einer pompösen Eingangshalle. Eine Treppe, breit genug, um Kompanien darauf exerzieren zu lassen, erhob sich ins erste Stockwerk.
    »Gemini«, sagte sie. »Ihr Mann hat freundlicherweise...«
    »Hier oben«, rief eine Stimme.
    Sie drehte den Kopf und sah eine Gestalt, die sich über ein Geländer lehnte und zu ihr herabwinkte.
    »Sind Sie Frau Gemini?«
    »Ja«, sagte Vera. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
    »Sie kommen wegen Lubold. Nein, nein, ich freue mich. Immer rauf mit Ihnen.«
    »Gehen Sie ruhig«, sagte die Frau. »Möchten Sie Tee?«
    »Lieber einen Kaffee.«
    »Gern, mein Kind.«
    Mein Kind. Wann hatte jemand zuletzt »mein Kind« zu ihr gesagt?
    Hatte es überhaupt je einer gesagt? In ihrer Familie war sie immer nur Vera gewesen.
    Sie stieg die Treppe hoch und staunte über die Liebe zum Detail.
    Das war eine jener Villen, die selten geworden waren und in denen alles stimmte. Keine grobschlächtigen Neuerungen, keine Architekten, die versucht hatten, sich kontrovers einzubringen. In Häusern wie diesem war es Bonn gelungen, eine ganze Epoche deutscher Bundesbeamter unbeschadet zu überstehen.

    Stephan Halm schüttelte ihr die Hand und hakte sich bei ihr ein.
    Er war klein und zappelig. Borstiges weißes Haar stand in alle Richtungen. Das glattrasierte Gesicht wirkte gütig und verständnisvoll, aber Vera ließ sich nicht täuschen. So großväterlich er wirken mochte, strahlte er zugleich Autorität und Würde aus. Sie versuchte sich vorzustellen, welchen Eindruck Halm bei denen hinterlassen hatte, die er befehligte. Ob sie den kleinen Mann gehaßt oder geliebt hatten, ganz sicher hatten sie ihn respektiert.
    »Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie warten ließ«, sagte Halm.
    »Ich war dabei, die Fische zu füttern.«
    Er führte sie in ein Arbeitszimmer mit antikem Mobiliar und mehreren mannshohen Aquarien.
    »Das ist besser als fernsehen«, sagte er. »Wenn Sie nachdenken wollen, schauen Sie in ein Aquarium, da finden Sie alle Antworten.«
    Er lachte. Ein feines, vornehmes Lachen, gewohnt, intellektuelle Bonmots zu kommentieren, deren Inhalt Normalsterblichen auf ewig unverständlich bleiben würde.
    Gemeinsam wanderten sie die beleuchteten Kästen entlang.
    »Sie scheinen nicht nur in Kriegsführung ein Experte zu sein«, sagte Vera höflich.
    »Oh, Fische sind etwas Wunderbares«, sagte Halm voller Enthusiasmus. »Ich liebe sie in jeder Form ihres Auftretens. Einzeln und in Schwärmen, wenn sie jagen oder sich paaren oder einfach nur still in der Strömung stehen, die wir hier simulieren, oder aber auch mit einer leichten Sauce.«
    Sie ließ ihren Blick über die Kästen schweifen. Die Bewohner hatten wenig gemein mit Schleierschwänzen und sonstigen Zierfischarten. Etwas schlängelte sich elegant um einen kleinen Felsen, und Vera fragte sich, ob es das war, wonach es aussah. Sie zeigte darauf.
    »Ein Zwerghai«, sagte Halm. »Harmlos. Wirklich gefährlich sind nur wenige Arten. Tigerhaie, Weißhaie, Zitronen‐ und Hammerhaie. Sie sind so etwas wie die Cruise Missiles der Meere. Sie können Geräusche und Gerüche über Kilometer ihrem Beuteschema zuordnen. Ein Kubikzentimeter Rosenessenz auf zweiunddreißig Bodenseen reicht, ihren Geruchssinn anzuregen. Ihr Gehör ist phä nomenal. Springen Sie ins Meer, und der Hai – weit draußen – wird Sie hören. Sie Schnorcheln, haben den Kopf unter Wasser, und er kommt. Aber sie können ihn nicht orten. Meist nähert er sich von unten, sein Rücken ist dunkler als der Bauch, weshalb er aus ihrer Perspektive mit der Tiefe verschmilzt. Sie können das Biest so lange nicht sehen, bis Sie es spüren. Perfekt.«
    »Biester? Ich dachte, Sie lieben Ihre Fische.«
    »Deswegen bleiben sie trotzdem Biester, und das ist keineswegs abwertend gemeint«, sagte er. »Ich beschäftige mich mit der Realität, meine Liebe. Kommen

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