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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Halm.
    »Sehen Sie, ich habe eine Reihe von Befragungen mit ihm durchgeführt. Ich bin kein Psychologe. Ich wollte einfach nur wissen, was für eine Art Mensch er ist. Zugleich haben wir seine Vergangenheit durchleuchtet. Lubold erwies sich als sehr gewandt, wie ich es erwartet hatte. Er war intelligent, gebildet und rhetorisch überdurchschnittlich begabt. Ich kannte ihn übrigens gut und habe ihn sehr geschätzt... vor der Sache. Wir haben lange Gespräche miteinander geführt, die uns auf hohem geistigem Niveau zu vereinen schienen.
    Auffassungen, die wir teilten.« Sein Blick schweifte eine Sekunde ab. »Lubold durchschaute die Welt. Das machte ihn so gefährlich.
    Nachdem wir ihn einige Zeit zwischenhatten, sprachen sich viele aus der Kommission dafür aus, ihn in allen Ehren wieder einzusetzen, so sehr waren sie davon überzeugt, die Fleischwerdung des Pflichtbewußtseins geschaut zu haben.«
    »Und was hat sich wirklich abgespielt?«
    »Lubold war mit seinen Männern im Feld. Eine strapaziöse Übung, bei der es darum ging, Minenfelder zu umkriechen, Tiefflieger abzuwehren und sich aus großer Höhe fallen zu lassen. Zudem herrschten scheußliche Witterungsbedingungen. Er war dafür bekannt, daß er solche Übungen mit äußerster Härte durchzog, aber im Ernstfall machtʹs einem ja auch keiner gemütlich. Nun ist Fallen eine Kunst, die nicht jeder beherrscht, und einer der Rekruten kam so unglücklich auf, daß er auf seinen Klappspaten stürzte. Lubold haßte Fehler. Als der Verletzte aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine kam, schrie er ihn an, er solle aufhören zu simulieren. Genau hier scheiden sich die Geister. Lubold konnte glaubhaft darlegen, daß er sich getäuscht sah und eine Simulation das Schicksal der ganzen Truppe besiegelt hätte.«
    »Wieso? Es war doch nur eine Übung.«
    »Nur eine Übung gibt es nicht in der Armee. Im Krisengebiet können Sie sich auch nicht darauf zurückziehen. Viel schlimmer ist, daß die meisten Soldaten zwischen Wahrhaftigkeit und Simulation kaum noch zu unterscheiden in der Lage sind. Vielleicht schlugen sich darum so viele auf Lubolds Seite. Sie hätten es lieber gesehen, ihn als Vertreter einer alten Härte bestätigt zu wissen, da man der Bundeswehr heute den Schlendrian der ewigen Defensive unterstellt. Wir anderen warfen ihm vor, er habe sehr wohl gewußt, daß der Soldat ernsthaft verwundet war. Nach einigem Hin und Her packte man den Rekruten jedenfalls auf eine Bahre und stürmte einen Hügel hinab. Lubold beschwor eine Katastrophe nach der anderen herauf. Tieffliegerangriff, Minengürtel, Heckenschützen. Mehrmals wurde die Bahre mit dem Mann, der kaum noch bei Be sinnung war, fallengelassen. Die Rekruten, die die Bahre trugen, beschworen ihn, die Übung abzubrechen. Er drohte mit Disziplinarverfahren. Es dauerte Stunden, bis der Mann endlich ärztliche Hilfe erhielt.«
    »Woran ist er gestorben?«
    »Milzriß.«
    »Und Sie glauben, Lubold hat seinen Tod bewußt in Kauf genommen?«
    »Er hat ihn provoziert«, sagte Halm sehr deutlich. »Nicht in Kauf genommen. Lubold haßte alle, die er für schwach und unzureichend hielt. Je mehr sie ihn anflehten, sich ihrer zu erbarmen, desto schlimmer traktierte er sie. Er hatte beschlossen, daß dieser Soldat Strafe verdiente. Er sollte sterben. Also starb er.«
    »Aber warum?« fragte Vera. »Ich verstehe immer noch nicht, was er davon hatte.«
    Halm sah sie ruhig an.
    »Der Soldat war er selber. Wir haben Lubolds Vergangenheit ergründet. Seine Familienverhältnisse. Seine Kindheit. Im allgemeinen ist das nicht üblich, aber ich wollte es so. Wir stießen auf einen übermächtigen Vater, einen hochrangigen, reichdekorierten Soldaten. Die Frau hatte sich immer ein Mädchen gewünscht, vielleicht, um dem Männlichkeitswahn ihres Privatdespoten etwas entgegensetzen zu können. Sie hat sehr unter ihm gelitten. Als sie einen Jungen zur Welt brachte, verweigerte sie dem Kind jede Liebe. Von seiner Mutter hat Jens Lubold immer nur zu hören bekommen, sie habe ihn nicht gewollt. Dafür verlangte der Vater ihm das letzte ab.
    Sein Sohn sollte zu einem Elitekämpfer erzogen werden, zu einem richtigen Mann. Was das ist, davon hat jeder seine eigenen Vorstellungen. Der Junge durfte keine Freunde haben. Während andere auf den Rheinwiesen Fußball spielten, wurden ihm Leistungen abverlangt, die ein Fünfjähriger unmöglich erbringen konnte. Während gewöhnliche Kinder Krieg spielten, fand der Krieg für ihn tatsächlich

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