Die dunkle Seite
richtig verstehen.«
»Danke, Tom. Wann ...«
»Und ein paar Takte werde ich dir dazu auch noch erzählen!«
»Wann kann ich das Bild haben?«
»Hörst du mir zu ? Die Sache ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst.«
»Ja«, sagte Vera gedehnt. »Du hast ja recht.«
»Also gut. Was ist mit heute mittag?«
»Das ist jetzt.«
»Halb eins?«
»Okay.«
11.40 Uhr. Menemenci
Üskers Mörder war kein Psychotiker.
Der Unterschied zwischen Psychotikern und Psychopathen bestand im wesentlichen darin, daß erstere nicht zurechnungsfähig waren. Psychopathen schon. Menemenci erinnerte sich an einen albernen Spruch, den sie ihnen auf der Akademie beigebracht hatten:
Schuldig ist der Psychopath.
Denn er wußte, was er tat.
Was auch immer in Üskers Mörder vorgegangen war, er hatte die Tat sorgfältig und mit klarem Verstand vorbereitet und durchgeführt.
Menemenci zog einen Stuhl heran und setzte sich an den großen Konferenztisch. Er holte ein kleines Buch hervor, blätterte darin, bis leere Seiten kamen, und schrieb oben auf das Blatt:
MÄNNLICH.
Der Grund dafür war fast erschreckend simpel.
Frauen taten so etwas nicht.
Sie erschlugen, erschossen und erstachen ihre Ehemänner und Geliebten. Sie erstickten ihre Kinder und versteckten die Leichen in Mülltonnen. Es kam vor, daß sie jemanden mit der Schere entmannten. Aber fast immer handelte es sich dabei um Affekthandlungen.
Eine kaltblütige und langwierige Tötung wie die von Üsker mochte eine Frau vielleicht fertigbringen. Aber über ein Jahrhundert Polizeiakten sagte, daß es so gut wie nie vorgekommen war.
Kaltblütig...
Menemenci stützte den Kopf in die Hände und dachte darüber nach. Die extremen unter den Killern handelten nie wirklich kaltblütig. Es gab enorm kontrollierte Typen, aber das Gros folgte sexuellen Obsessionen. Wie gut sie ihre Taten auch vorbereiteten und ihre Spuren verwischten, während der Tat empfanden sie Lust und höchste Erregung. Es ging nur um die Befriedigung dieses Triebs.
Aber das galt für Männer, die Frauen ermordeten. Üsker war männlich.
Hatte Üskers Mörder einen Trieb befriedigt?
Nichts wies darauf hin. Er hatte so ziemlich alles mit seinem Opfer angestellt, was man sich vorstellen konnte, nur mißbraucht hatte er es nicht. Nur Üskers Sperma hatte sich gefunden, der im Augenblick höchster Qual oder des Todes ejakuliert hatte. Folterspuren im Genitalbereich. Aber keine Anzeichen einer Vergewaltigung.
Es würde sich zeigen, ob der Mord an Üsker der Beginn einer Serie war oder ein einzelnes Verbrechen. Aus verschiedenen Gründen glaubte Menemenci nicht an einen Serienmörder im klassischen Sinne. Er hatte nicht den Eindruck, daß der Mann von etwas getrieben worden war, das er tun mußte, um sich zu verwirklichen. Er war kein Lustmörder, ganz sicher aber ein Sadist. Seine Psyche war deformiert, wenngleich sich ein beunruhigendes Maß an Sachlichkeit mit in die Tat mischte.
So seltsam es klingen mochte, die Tat ergab offenbar einen Sinn.
Zögernd schrieb Menemenci:
PSYCHOPATH. SADIST.
Aber warum? Nur aus Lust am Quälen?
Er strich den Sadisten wieder aus und ersetzte ihn durch:
SADOPHIL.
Das traf es eher. Der Mörder mußte natürlich eine sadistische Veranlagung haben, er hätte es sonst nicht über sich gebracht, all diese Dinge zu tun. Andererseits war es nicht das Verbrechen eines Sadisten im eigentlichen Sinne. Der Zweck, soweit man das Wort darauf anwenden konnte, war ein anderer.
Da war noch mehr ...
Die Pathologie hatte die Vermutung des Arztes, der die erste Untersuchung am Tatort durchgeführt hatte, zugleich bestätigt und widerlegt. Üsker war zwischen den Folterungen tatsächlich mit schnell wirkenden Medikamenten behandelt worden, um ihn bei Bewußtsein zu halten. Sein Leiden war fürchterlich gewesen, und wie es aussah, hatte die Schwere der Mißhandlungen sukzessive zugenommen.
Zu allen Zeiten aber war Üsker in der Lage gewesen, zu hören und zu sprechen. Sein Mörder hatte Wert darauf gelegt, daß er kommunikationsfähig blieb.
Warum?
Schreien konnte man auch ohne Zunge. Hatte sich der Mörder daran berauscht, wie sein Opfer um Gnade winselte? Das hatte Üsker mit Sicherheit getan. Bis zum Schluß mußte ihm bewußt gewesen sein, daß keine seiner Verletzungen tödlich war. Er mußte eine Chance gesehen haben, weiterzuleben, wenn sein Peiniger nur aufhörte. Ein Leben zwar mit Verstümmelungen und unter Schmerzen, aber immerhin ein Leben.
So schrecklich die Tat
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