Die dunkle Seite
plötzlich auf diesen Augenblick zu freuen.
Um 17.10 rief Bathge an.
Und alles kam anders.
»Wir müssen uns noch mal sehen«, sagte er. »Ich habe Sie belogen.«
Sie war zu verblüfft, um gleich antworten zu können.
»In welcher Hinsicht?« stieß sie endlich hervor.
Bathge räusperte sich.
»In jeder.«
18.02 Uhr. Rheinpark
»Sie machen mich fertig«, sagte Vera, als sie neben ihm Platz nahm, darauf bedacht, Abstand zu wahren. »Was haben Sie jetzt schon wieder verschwiegen?«
Bathge zog an seiner Zigarette.
»Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
»Es gibt keinen Grund, sich zu bedanken«, erwiderte sie unterkühlt. »Sie bezahlen mich dafür.«
Bathge nickte.
»Ja«, sagte er. »Natürlich.«
Vera spürte die Lehne der Parkbank hart im Rücken. Sie haßte Bänke. Wenn sie Leute darauf hocken sah, schien es ihr jedesmal, als warteten sie auf den Tod. Schulbänke, Tod durch Noten. Gerichtsbänke, Tod durch Bloßstellung, Verurteilung, Ächtung. Bänke in der Notaufnahme, bevor sie einen zusammenflickten, Tod durch Maul halten.
Sie sah hinaus auf den Fluß. Im diesigen Spätnachmittag erschien ihr die Silhouette der Stadt wie aus grauem Karton geschnitten.
Plötzlich fürchtete sie, er könnte den Mord an Üsker gestehen.
War es das, was er ihr sagen wollte?
Um dann was zu tun?
Verstohlen musterte sie ihn. Bathge drehte den Kopf. Der Rauch seiner Zigarette trieb an ihr vorbei. In diesem Moment wußte sie, daß sie auf eine Fassade blickte. Unter der Oberfläche spürte sie Anzeichen einer fiebrigen Präsenz, die seine Lässigkeit Lügen strafte. Die Art, wie er die Zigarette hielt, das Zucken seiner Kinnmuskulatur, seine gesamte Motorik, alles deutete auf eine enorme innere Anspannung hin. Er betrachtete sie seinerseits, und sie sah den gehetzten Ausdruck in seinen Augen, den sie nur allzugut kannte von den unzähligen Malen, die sie in ihrem eigenen Spiegelbild nach einem Rest von Würde und Bedeutung gesucht hatte, während die Angst in ihr wuchs, wegreduziert zu werden und aus der Welt zu verschwinden. Einfach so, leise und unauffällig. Für ungültig erklärt zu werden. Nicht stattgefunden zu haben. Entpersönlicht, verdinglicht, in winzige Stückchen zerrissen, atomisiert und in den Wind geblasen.
Die Angst vor der Angst.
Wie nah das alles noch lag. Der beinahe unmenschliche Kraftaufwand, sich nicht lähmen zu lassen, nicht aufzugeben. Endlich die Transformation der Hilflosigkeit in ein Inferno aus zerstörerischer Wut, eine Explosion des Hasses, wenn die Wände näherrückten und es keine Möglichkeit zur Flucht mehr gab. Die Mutation der Beute in ein Monstrum. Die Umkehrung der Rollen.
Tod oder Befreiung.
Sie wußte nicht, ob es das war, was sie einen Moment lang in Bathge zu erkennen glaubte, bevor sich seine Miene wieder verschloß. Ob er sie überhaupt wirklich einen Blick in seine Untiefen hatte werfen lassen oder sie in ihre eigenen zurückgeschickt hatte. Seine Augen waren von einem obsidianfarbenen Schwarz.
Gut möglich, daß er sich offenbart hatte. Ebensogut möglich, daß sie sich in ihm gespiegelt hatte.
Sie wartete.
»Wissen Sie, was komisch ist?« sagte Bathge nach einer Weile des Schweigens, »Orte wie dieser Park. Wenn man zu lange weg war ...
ich meine, zu lange nicht mehr Kind war, beginnen sich solche Orte in der Erinnerung mit einer Magie zu beseelen, als könnten sie jeden Kummer heilen. Die Welt wieder ins Lot bringen, egal, wie schief sie vorher dagehangen hat! Man muß nur hingehen. So einfach.« Er rieb die Hand an seinem Kinn, und sie hörte das Schaben der Stoppeln. »Ich hatte ständig dieses Bild vor Augen. Wie ich über die Wiesen renne und Farben riechen kann! Haben Sie schon mal Rot gerochen? Erstaunlich. – Dann kehrt man nach einer Ewigkeit zurück und stellt fest, es war gar nicht der Ort, der einen damals verzaubert hat. Kinder verzaubern Orte, nicht umgekehrt. Wenn die Zauberkraft erloschen ist und alle Magie zum Teufel, dann ist man offenbar erwachsen.«
Er betrachtete den Stummel seiner Zigarette und schnippte ihn weg.
»Eben habe ich festgestellt, daß dieser Park ein Park ist. Nichts weiter.«
Vera zögerte. Dann sagte sie: »Was wollen Sie eigentlich, das ich für Sie finde? Marmann oder Ihren Seelenfrieden?«
Bathge stieß ein leises Lachen aus.
»Meinen Seelenfrieden? Schöne Vorstellung. Dafür müßten Sie weit reisen. Sagen wir mal, mit Marmann wäre mir schon sehr gedient.«
Er zog eine
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