Die dunkle Seite
Prinzip gebärdete sich das Tamagotchi nicht anders als ein Haustier oder Baby. Auf seine putzige Art leitete es jedoch eine völlig neue Entwicklung ein. Der Computer nutzte den Menschen – wann immer er ihn brauchte. Er aktivierte und deaktivierte das menschliche Wesen, das in seinem Sinne sofort funktionierte, seine augenblickliche Tä tigkeit unterbrach, wie befohlen auf Tasten drückte und die erforderlichen Maßnahmen in die Wege leitete. Tamagotchis ließen sich nicht abschalten, aber sie schalteten menschliche Wesen ein und aus, wie es dem Zufallsgenerator gerade paßte.
Sie waren out, weil ausgefeiltere Systeme an ihre Stelle getreten waren. Die kommende Generation war Haustieren nachempfunden und konnte fortlaufen, wenn sich das Programm vernachlässigt fühlte. Um so mehr wurde notwendig, was die Tamagotchis der Frühzeit erforderlich gemacht hatten: Eine völlig neue Art von Psychiater. Spezialisiert auf die Betreuung tamagotchigeschädigter Kinder, die es nicht verkrafteten, daß durch ihre Schuld ein Wesen gestorben war, außerstande, die Künstlichkeit der Kreatur zu begreifen.
Diese Kinder hatten gegen ein Gesetz verstoßen. Ein göttliches Gesetz.
Du sollst nicht töten.
Vera starrte auf das virtuelle Wohnzimmer vor ihr und runzelte die Stirn. Die schleichende Okkupation des freien Willens hatte im Spielzeugladen begonnen und setzte sich nun offenbar im Internet fort.
Sie zeigte auf die Gruppe der Besucher.
»Was passiert, wenn du sie einfach sitzenläßt?«
»Ganz schlecht.« Nicole warf einen nervösen Blick auf den Bildschirm. »Sie werden mich eine Weile schneiden und nicht mehr zu sich einladen. Wirklich zu blöde, daß du ausgerechnet jetzt gekommen bist. Aber es ist eigentlich immer blöde.«
»Wer sind überhaupt sie? Programme?«
Nicole schüttelte heftig den Kopf.
»Menschen!« sagte sie, als gäbe es nichts Offensichtlicheres. »Das ist doch der ganze Witz. Immer neue Leute kommen hinzu und klinken sich ein. Alles spielt sich in Intertown ab, das ist eine große Stadt, eine Megapolis wie Hongkong oder New York. Man kann da eine Wohnung mieten oder kaufen, einen Beruf ergreifen und richtig da leben. Abends geht man aus oder bleibt zu Hause. Man verdient auch Geld, und es gibt eine Menge wirklich toller Geschäfte, wo man es wieder ausgeben kann.«
Nicole zeigte auf die Gestalt eines jungen Mannes, der steif und mit leerem Gesicht auf der Kante eines Sessels hockte.
»Das ist Jochen«, lächelte sie. »Er ist sehr süß. Findest du nicht auch, daß er süß ist?«
»Doch«, murmelte Vera. »Sehr süß.«
»Oh Mist!« Augenblicklich nahm Nicoles Gesicht wieder den Ausdruck tiefster Verzweiflung an. »Wahrscheinlich ist die Unterhaltung schon im vollen Gange. Ich müßte zu ihnen rübergehen, um dran teilnehmen zu können. Wenn ich mich nicht bald dazusetze, werden sie wieder gehen.«
»Na und? Du bist eben einfach nicht zu Hause.«
»Sobald man für die anderen sichtbar wird, ist man zu Hause.
Und ich hab mich eingeklinkt. Sie können mich sehen.«
»Sag Ihnen einfach, du bist krank.«
»Aber Jochen ist mitgekommen. Ich kann doch nicht krank sein.
Weißt du ... äh ... sag mir noch mal deinen Namen ...«
»Vera.«
»Weißt du, Vera, ich bin der Meinung, dir fehlt da irgendwie der Zugang.«
»Mag sein.«
»Ich glaube, du kannst nicht abstrahieren. Das muß es sein. Du kannst nicht abstrahieren.«
Du liebe Güte!
»Eines habe ich tatsächlich noch nicht ganz begriffen«, sagte Vera, die eigentlich gekommen war, um über Marmann zu reden. »Was ist der ... Sinn dieses Spiels?«
Nicole sah sie verständnislos an.
»Sinn?«
»Warum spielt man es ? Ich meine, es ist witzig, aber wozu ist das alles gut?«
»Es ist eine zweite Welt, ein zweites Leben«, sagte Nicole sehr dramatisch. »Sieben Tage, vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr. Verstehst du, man lebt zweimal. Augenblicklich sind die Möglichkeiten noch begrenzt, es dauert alles ein bißchen lange und die Auflösung ist pixelig und scheiße, aber am Ende führst du ein komplettes zweites Leben im Internet. Hier und heute bist du ... also du zum Beispiel bist Detektivin, aber in Intertown kannst du alles mögliche andere sein. Schauspielerin, wenn du willst. Börsenmaklerin.
Du kannst ein Vermögen machen und wieder verlieren, du kannst dich verschulden, bis dir der Arsch abfällt. Du kannst sogar in den Knast kommen, stell dir das mal vor.«
»Es gibt also auch Verbrechen in Intertown?«
»Theoretisch schon.
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