Die dunkle Seite
So weit sind wir noch nicht, aber das wird kommen. Ich meine, es gibt alles! In Intertown hast du Arbeitskollegen und Freunde wie hier auch, und du kannst dich verlieben und heiraten. All das. Jochen könnte sich allmählich auch in mich verlieben«, fügte sie verdrießlich hinzu.
»Augenblick mal. Jochen ist eine reale Person?«
»Ja.«
»Und du bist in ihn verknallt?«
Nicole kicherte.
»Ein bißchen. Er ist süß.«
»Ja, er ist süß. Weißt du denn, wie er aussieht? Hast du ihn schon mal gesehen?«
»Natürlich. Er sitzt ja da.«
Vera schüttelte den Kopf.
»Nein, ich meine, ob du ihn wirklich und leibhaftig schon mal gesehen hast.«
Zwischen Nicoles Brauen bildete sich eine Falte.
»Wozu?« fragte sie vorwurfsvoll. »Im Internet sieht er so aus, wie er aussieht, basta. Das wirkliche Leben hat hier nichts zu suchen.«
Vera fragte sich, ob Nicole noch wußte, welches das wirkliche Leben war.
»Ich sehe auch ein bißchen anders aus, siehst du?« sagte Nicole.
»Es gibt Programme, die helfen dir, dich so zu modulieren, wie du gerne sein willst. Guck mal, das ist doch super! Zum Beispiel, wenn du fett und häßlich bist. So eine arme fette Sau, die sich nicht unter Menschen traut, aber ein Herz aus Schokolade hat, kann schön und schlank sein und kriegt endlich mal jemanden ab.«
»Verstehe. Und wie läuft das dann mit dem Vögeln?«
Nicole zuckte die Achseln.
»Natürlich kann man auch Sex haben. Aber du hast recht, da haktʹs. Es gibt ein Orgasmometer, das Energiestöße mißt, aber das bringtʹs nicht. Im nächsten Schritt werden wir wohl einen speziellen Anzug brauchen mit einer Million Sensoren. Gibtʹs schon ewig, ist aber alles noch viel zu teuer.«
»Man könnte sich ja im Internet kennenlernen und dann im wirklichen Leben verabreden«, stichelte Vera. »Lauter Fettsäcke mit Nelke im Knopfloch.«
»Quatsch. Erst mal geht es darum, eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen. Wenn Intertown steht, rufen wir Interstate aus. Dann sehen wir weiter.«
Intertown. Interstate.
Irgendwann, dachte Vera, gehen andere Spinner hin und gründen eine andere Interstadt in einem anderen Interstaat. Gibt es dann Krieg um Speicherplätze?
Krieg im Internet?
»Na schön«, sagte sie. »Das ist alles wirklich faszinierend. Könntest du dennoch fünf Minuten deiner Zeit erübrigen?«
»Ja, sicher.« Nicole wandte sich von dem Bildschirm ab und sah Vera in die Augen.
»Du denkst bestimmt, ich bin vollkommen durchgeknallt«, sagte sie. »Täusch dich nicht. Ich weiß ganz gut, was Priorität hat. Mein Bruder zum Beispiel. Du suchst Andreas, sagt meine Mutter. Warum?«
Vera ging langsam zu dem Sofa, setzte sich und schlug die Beine übereinander.
»Ein Freund von Andreas hat mich beauftragt.«
»Mein Vater fand das gar nicht gut. Er hat einen Haß auf Detektive.« Sie kicherte selbstgefällig, während ihre Finger Haarsträhnen zu Löckchen drehten. »Warum hast du denen nicht irgendwas erzählt? Daß du selber eine alte Freundin bist oder so was?«
»Ich dachte, es wäre ausnahmsweise besser, den Leuten reinen Wein einzuschenken. Eine Detektivin könnte Andreas schließlich finden, stimmtʹs?«
»Hat Mama auch gesagt. Was will denn dieser Jemand von Andreas?«
»Nichts Böses. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Meine Klienten genießen Diskretion. Aber ich säße nicht hier, wenn es darum ginge, Andreas Schaden zuzufügen. Erst mal geht es darum, daß er keinen Ärger mit der Polizei bekommt.«
»Den hat er schon.«
»Den hatte er. Möglicherweise läßt sich auch daran was drehen.«
Nicole nickte. Vera sah, wie hinter ihr die Personen aus dem virtuellen Wohnzimmer verschwanden. Marmanns Schwester hatte soeben ein paar Freunde verloren.
»Deine Eltern haben angeblich keinen Schimmer, wo Andreas abgeblieben ist«, sagte sie. »Zumindest deinem Vater scheint es egal zu sein.«
»Der Arsch!«
»Naja. Er macht einen ziemlich zornigen Eindruck. Wie kommt deine Mutter übrigens darauf, du wüßtest mehr als er?«
»Hat sie das gesagt?«
»Indirekt.«
Nicole beugte sich vor.
»Was weißt du denn überhaupt, Detektivin?«
»Zu wenig. Das ist ja das Problem.«
»Mhm.« Nicole wirkte enttäuscht. »Ich dachte eigentlich, du hättest ihn schon gefunden. Oder wenigstens eine Spur. Meine Mutter glaubt das.«
»Nein.« Vera schüttelte den Kopf. »Möglich, daß ich ihm nähergekommen bin, aber mir gingʹs nicht anders als dir. Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest wir
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