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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Grimasse.
    »Eigentlich müßte ich zwei Typen eine Homepage einrichten.
    Aber es ist gerade ein bißchen blöde. Im Grunde hab ich überhaupt keine Zeit. Hast du schon?«
    »Was? Zeit?«
    »Ob du eine Homepage hast.«
    »Nein.« Vera überlegte einen Moment, dann beschloß sie, Nicoles Vertraulichkeit zu akzeptieren. »Wenn du keine Zeit hast, machen wirʹs kurz. Okay?«
    »Ach was, bleib hier. Es ist bloß, weil...« Sie stockte. »Eben ist Besuch gekommen, und ich sollte wohl lieber mal was anbieten oder so.«
    »Um Himmels willen«, wehrte Vera ab. »Mach dir meinetwegen keinen Kopf.«
    Nicole starrte sie verständnislos an.
    »Nicht für dich. Nicole, ich meine, die andere Nicole hat Besuch bekommen.«
    Sie zeigte auf das Wohnzimmer im Monitor.
    »Freunde. Ganz überraschend.«
    »Freunde?«
    »Ja. Das gehört zum Spiel. Ein paar wirklich clevere Leute haben es entwickelt. Mittlerweile ist es ganz schön populär geworden.
    Pass mal auf!«
    Nicole beugte sich über die Tastatur und gab in rascher Folge eine Reihe von Befehlen ein. Der Kopf einer Frau erschien plötzlich in einem separaten Datenfenster am oberen Bildschirmrand. Zugleich begann sich der Blickwinkel auf das Wohnzimmer und die Leute darin leicht zu verschieben. Sie erwachten zum Leben und wandten einander hölzern die Köpfe zu.
    Vera betrachtete das Gesicht der Frau im Computer und hob die Brauen.
    »Das bist du«, sagte sie überrascht.
    Dann sah sie genauer hin.
    Es war tatsächlich Nicole, und doch wieder nicht. Die Nicole auf dem Bildschirm war deutlich hübscher und besser proportioniert. In jeder Hinsicht verkörperte sie die Idealversion des Originals.
    »Ist das die andere Nicole?« fragte sie. »Die, die Besuch bekommen hat?«
    »Ja«, sagte Nicole. »Wirklich ganz unerwartet, tut mir leid. Um den Besuch muß Nicole sich jetzt kümmern, also ich, sonst werden die Freunde sauer und gehen wieder. Siehst du, ich bin auf Subperspektive gegangen. Wir erleben alles durch Nicoles Augen, und die Besucher sehen sie auf ihren Screens durch ihre Augen.«
    »So wie oben abgebildet?«
    »Ja.«
    »Wessen Wohnzimmer ist das?«
    »Meines. Ich meine, das von Nicole. Ich sag ja, Nicole hat Besuch bekommen, sie muß irgendwas machen, hallo sagen und so. Man kann Freunde verlieren, wenn man sie ignoriert, und dann dauert es lange, bis man wieder welche findet.«
    »Was ist das, dieses Spiel? So was wie ein Tamagotchi?«
    »Ach was!« Nicole winkte ab. »Viel besser. Tamagotchis sind scheiße, die taugen zu nichts.«
    Das stimmte bedingt. Die erste Tamagotchi‐Generation war Schnee von gestern. Vera erinnerte sich, wie die Dinger siebenundneunzig in Mode gekommen waren. Kleine eiförmige Computerchen mit Minibildschirmen, die man sich an den Gürtel hängen und überallhin mitnehmen konnte. Auf dem Bildschirm schlüpfte, sobald man das Ding aktivierte, ein kleines Geschöpf mit Augen und Mund. Man mußte es füttern, liebkosen, mit ihm spielen und seine Scheiße wegmachen, die es in Form von Flüssigkristallhäufchen hinterließ. Tamagotchis waren genügsam, mitunter schliefen sie mitten am Tag ein, und der Bildschirm zeigte nur:... z... z... z... Aber sie konnten auch Freude und Trauer zum Ausdruck bringen, krank werden, wenn man sich nicht um sie kümmerte – und sterben.
    Eine Weile waren alle Kinder und auch Erwachsene mit Tamagotchis herumgelaufen. Die schmucklose Darstellung des Wesens machte wenig her, auch nicht das einfallslose Programm, weil das Tamagotchi im Grunde nichts anderes konnte als schlafen, essen, scheißen, herumhüpfen oder den Kopf hängenlassen. Bemerkenswert war der Umstand, daß dieses nichtlebende Lebewesen sich den Zeitpunkt seiner Aktivitäten selber aussuchte. Der Zufallsgenerator erlaubte keinerlei Prognosen. Unmöglich zu sagen, wann es einschlafen oder aufwachen und Hunger signalisieren würde. Wenn es schlief, schlief es. Wenn es Nahrung brauchte, piepste es und wollte gefüttert werden.
    Im Zweifel piepste es um drei Uhr morgens.
    Als Folge waren Eltern nachts aufgestanden und hatten die Pflege der Kreatur übernommen, damit ihre Kinder nicht mit grauen Gesichtern zur Schule gingen. Sie kamen dennoch unausgeschlafen dort an und waren mehr damit befaßt, den Wünschen der kleinen Quälgeister nachzukommen, als dem Unterricht zu folgen. Das Tamagotchi, so hilflos es anmutete, spielte seine Macht aus und vertauschte die Rollen. Das Programm übernahm die Rolle des Users, die Abrufbarkeit des Besitzers wurde vorausgesetzt. Im

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