Die dunkle Seite
weiterhelfen.«
»So? Nun, ich ...« Nicole stockte und biß sich auf die Lippen.
Vera wartete.
»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht. Vor ein paar Jahren kam mal ein Mann zu mir. Quatsch, zu uns. Ich war damals noch verheiratet. Er sagte, Andreas hätte ihn geschickt, und ich solle mir keine Sorgen machen, es ginge ihm gut. Ich wollte natürlich wissen, wo er ist, aber der Mann sagte, er dürfe mir das nicht erzählen, Andi lebe im
... was hat er gesagt? Im Schatten seiner selbst. Irgend so was Komisches. Ich schätze, er wollte zum Ausdruck bringen, daß Andreas sich in Deutschland nicht blicken lassen kann wegen dem Bank‐
überfall. Dann drückte er mir einen Umschlag in die Hand und meinte, mein Bruder sei mit unseren Eltern fertig, das könne ich ihnen ausrichten, und sie hätten absolut gar nichts von ihm zu erwarten.«
»Wann war das?«
»Vor ... oh Mann, das ist schon eine Weile her. Sechs oder sieben Jahre, würde ich meinen.«
»Und weiter?«
Nicole kniff die Augen zusammen, als müsse sie ihre Gedanken wieder auf Kurs bringen.
»In dem Umschlag war Geld«, sagte sie. »Ziemlich viel Geld sogar.
Der Mann sagte, es sei für mich und ich solle selber entscheiden, ob ich meinen Eltern was davon abgeben will oder nicht. Er fragte nach meiner Bankverbindung und kündigte regelmäßige Überweisungen an. Das war geil. Meine komische Ehe ging gerade den Bach runter, da lief gar nichts mehr. Meine Eltern hatten sowieso keine Kohle, also mußte ich irgendwie zusehen, daß ich klarkam. Seit damals gehtʹs mir nicht gerade schlecht. Ich meine, es ist nicht die Welt, aber es reicht, daß ich nicht an den Nägeln kauen muß.«
»Hast du mal versucht rauszufinden, woher das Geld kommt?«
»Einmal. Es läuft über ein Konto in der Schweiz. Keine Ahnung.
Wenn es wirklich von Andi stammt, hat er jedenfalls dafür gesorgt, daß ihn keiner findet.« Sie lächelte. »Auch du nicht. Andi ist nicht blöde, verstehst du? Er will sich nämlich nicht finden lassen.«
Vera überlegte.
Dann sagte sie: »Der Mann, der dich damals aufgesucht hat... erinnerst du dich, wie er aussah?«
Nicole kräuselte die Lippen.
»Irgendwie fies. Er war ganz nett, aber ... ich weiß nicht.«
»Sprach er deutsch?«
»Ja, aber komisch.«
»Wie?«
»Komisch halt. Er hat geklungen, als ob er die Worte hinter sich herschleift.«
»Slawisch?«
»Mhmmm... ja. Schon.«
»Schwarze Haare, schwarzer Bart?«
»Schmierig. Ja, ich glaube, er hatte einen Bart. Und überall Schmuck. Irgendwie uncool.«
»Hat er seinen Namen genannt?«
»Nein. Ich hab ihn auch nur dieses eine Mal gesehen. Danach nie wieder.«
Vera nickte. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Nicoles mysteriöser Besucher identisch war mit jenem Mann, den sie heute mittag kennengelernt hatte. Der einäugige Herrscher über das schä‐
bige kleine Sündenbabel in Porz.
Ymir Solwegyn hatte zu jeder Zeit gewußt, wo Andreas Marmann war.
Und er wußte es auch jetzt.
Sie musterte Nicole und fragte sich, ob dieses ewige Kind fähig war zu lügen.
»Weißt du, wohin dein Bruder verschwunden ist, nachdem er den Bullen entwischen konnte?«
»Nein.«
»Du weißt nicht, daß er zur Fremdenlegion gegangen ist?«
Nicole sprang auf. Ihre Augen blitzten.
»Warum sagst du mir das erst jetzt?« schrie sie in plötzlicher Wut.
»Du weißt ja doch, wo er ist, du blöde Schlampe! Du ...«
»Ich weiß gar nichts«, sagte Vera ruhig. »Setz dich hin und hör mir zu.«
»Ich denke nicht daran.«
Vera stand auf und machte einen Schritt auf Nicole zu.
»Setz dich. Bitte!«
Die Frau, die aussah wie eine Erwachsene, verstummte und holte tief Luft. Dann ließ sie sich mit herabgezogenen Mundwinkeln wieder in ihren Drehsessel sinken. Die kindliche Seite ihrer Persönlichkeit reagierte auf Veras autoritären Tonfall mit Gehorsam, ganz wie erwartet.
Vera kannte die Sorte Menschen, deren Persönlichkeit nicht mitgewachsen war. Die Kinder in Erwachsenenkörpern und ihre unbezähmbare, hilflose Wut. Ihre jämmerliche Niedergeschlagenheit, wenn man ihnen Paroli bot, so daß nur noch der Lutscher fehlte, um sie zu trösten.
»Tut mir leid«, sagte sie.
Nicole zuckte die Achseln.
»Andreas ist schon lange nicht mehr bei der Legion«, sagte Vera.
»Anfang der Neunziger hat er sich einer Truppe von Söldnern angeschlossen. Dann verliert sich seine Spur. Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.«
»Ach so«, sagte Nicole schwach. Sie sah hinter sich auf den Bildschirm und zuckte
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