Die dunkle Seite
mir das zu erklären?«
»Nein, ich machʹs kostenlos. Und gerne. Nicht wie die Drecksäue auf der Ehrenstraße, die Ihnen einen schönen Tag an den Kopf werfen, auch wenn Sie gar nichts gegeben haben. Die wünschen Ihnen im selben Atemzug die Pest an den schlanken Hals, gnädige Frau. Ich bin nicht so wie die. Ich sag Ihnen, was ein sozialökonomisches Desaster ist.«
»Und?«
»Ein sozialökonomisches Desaster ist, wenn Sie Geld haben, um Bier zu kaufen, aber zuwenig für Starkbier.«
Vera blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Er ging ihr nicht mal bis zum Kinn.
»Warum denn ausgerechnet Starkbier?«
Er sah sie unschuldig an.
»Ich rauche starke Zigaretten. Dazu gehört nun mal Starkbier.«
»Ach so.«
»Ich war fast schon hops gegangen wegen der Zigaretten. Meine Lunge liegt in Fetzen. In mir ist alles kaputt.«
»Ich mach dir einen Vorschlag«, sagte Vera. »Hör auf zu rauchen, dann gehtʹs dir besser, und du hast Geld für Starkbier.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Starkbier schmeckt nur zu Zigaretten.«
Der Kreis seiner Argumentation hatte sich geschlossen. Er sah an ihr hoch und lächelte selbstzufrieden.
Vera konnte nicht anders: Ein Fünfmarkstück wechselte den Besitzer. Sie wußte, daß es ein Fehler war, aber es lief jedesmal auf dasselbe hinaus. Entweder gab sie nichts oder zuviel.
Er sah den Fünfer an. Dann spuckte er vor ihr auf den Boden und rannte davon.
Vera vergaß es im selben Moment und ging weiter.
Sie hätte es wissen müssen.
Der Kerl war immer noch harmlos, aber er gehörte zu denen, die den echten Berbern das Geschäft kaputtmachten. Am Friesenplatz hatte eine Gruppe seinesgleichen im letzten Jahr so etwas wie Wegezoll erhoben. Kaum, daß man an ihnen vorbeikam. Vera hatte sie mehrfach ignoriert, bis einer sie an der Schulter gepackt hatte, um ...
Sie lächelte grimmig. Immer noch konnte sie ihn schreien hören.
Sehen, wie er seine Knie anschrie, weil ihm der aufrechte Gang abhanden gekommen war.
Vera ging schneller. Nicole Wüllenrath erwartete sie ab 19.00 Uhr.
Diesmal war sie angemeldet. Im Gegensatz zu den Eltern hatte sich die Tochter als kooperativ erwiesen. Gleich nach Veras Besuch hatte die alte Marmann sie angerufen und Nicole gebeten, sich mit der Detektivin zu unterhalten. Nicole hatte freundlich geklungen am Telefon, allerdings glaubte Vera, in ihrer Stimme einen Anflug von Hysterie bemerkt zu haben.
Es war offensichtlich, warum Nicoles Mutter so interessiert an einer Kontaktaufnahme war. Damals hatte sie sich nicht getraut, Vera ins Haus zu bitten. Ihr Mann hätte es nicht gebilligt. Über Nicole ergab sich jedoch die Möglichkeit, in Verbindung zu bleiben.
Frau Marmann wünschte sich nichts sehnlicher als die Rückkehr ihres Sohnes, auch wenn sie es ihrem Ehemann gegenüber nicht zugab. Wie es aussah, hatte Vera in der alten Frau das Feuer der Hoffnung neu entfacht. Damit waren es schon zwei, für die sie Marmann finden sollte.
Vorläufig.
Sie klingelte. Ihr wurde aufgedrückt, und sie durchschritt eilig den Flur. Das Haus war innen so schmucklos und abweisend wie seine Fassade. Stufen aus billigem Marmor führten nach oben.
Nicole Wüllenrath lehnte im Türrahmen. Sie hatte struppiges schwarzes Haar und die Augen ihres Bruders. Vera schätzte sie auf Ende zwanzig. Die Ähnlichkeit mit Andreas Marmann war so verblüffend, daß Vera einen Moment lang erwartete, sie würde in der nächsten Sekunde ein Maschinengewehr hervorzaubern und lässig über den Unterarm legen.
»Du bist die Detektivin«, konstatierte Nicole.
»Stimmt.«
»Komm rein.«
Sie führte Vera durch einen mit Computergrafiken vollgehängten Flur in ein großes, helles Zimmer. Das Mobiliar war weniger als spärlich. Ein einzelnes Sofa im Rokoko‐Stil stand mitten im Raum.
Mehrere Computer teilten sich die gesamte hintere Wandfläche.
Drumherum stapelten sich Zeitschriften und lose Blätter, standen leergetrunkene Colaflaschen und Gläser herum. Einige der Bildschirme zeigten Schrifttafeln, andere Grafiken. Auf einem drehte sich beständig ein Symbol um seine Achse.
»Ich kann dir nichts anbieten«, sagte Nicole und lächelte verlegen.
»Wahrscheinlich werde ich irgendwann in der Bude hier verhungern, aber ich komme einfach nicht nach draußen.«
»Woran arbeiten Sie?« fragte Vera neugierig und trat zu den Bildschirmen. Im selben Moment verschwand das Symbol.
Die Darstellung eines Wohnzimmers baute sich auf, in dem mehrere Leute saßen.
Nicole zog eine
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