Die dunklen Engel (German Edition)
wie Wolken und Rauch den Halbmond verhüllten.
Noch nie war sie ohne eine ganze Schar Dienstboten gereist, war noch nie in einer Herberge gewesen, deren Gastwirt nicht eifrig um ihr Wohlbefinden bemüht war. Noch nie hatte sie in solcher Gefahr geschwebt.
Seit sie in Frankreich an Land gegangen war, hatte es Augenblicke gegeben, da sie sich verloren und einsam gefühlt hatte und voller Angst, doch diese Augenblicke waren selten. Es hatte sie angewidert, wie die Soldaten sie begrapscht hatten, doch selbst da hatte sie gewusst, dass Skavadale in der Nähe war, dass er auf sie aufpasste, dass sie sicher war. Genau wie sie sich jetzt, da sie allein in ihrem schmalen Bett lag, sicher fühlte, weil er unten war.
Morgen würden sie die Kutsche nach Bellechasse nehmen, und von Bellechasse würden sie die Berge nach Auxigny überqueren. Dort würden sie endlich alle Antworten finden. Nicht nur auf Luzifer und die Gefallenen Engel, sondern auch auf die Fragen, die sie seit zwölf Monaten narrten. Die Liebe, hatte ihr Onkel gesagt, war eine Illusion. Mehr nicht.
Dann war auch das hier ein Trugbild. Diese Reise, diese Verrücktheit, dieses Abenteuer.
Der Zigeuner hatte ihr einmal gesagt, dass die Straßen niemals endeten, doch es schien ihr, dass sie enden würden, nicht in Trauer, sondern in den Geheimnissen von Auxigny. Danach, sagte sie sich, würden die alten Straßen verschwunden sein. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie war in Frankreich, und sie war glücklich.
Sie wusste, dass die Maschine auf der Place de la Révolution stand, aber dann war es doch eine Überraschung, den hohen Rahmen über die Köpfe ragen zu sehen. Stirnrunzelnd blieb sie stehen.
«Was ist los?» Skavadale trug ihre Taschen zur Postkutschenstation. «Oh, das!»
«Dear God!»
«Sprechen Sie kein Englisch.»
«Habe ich das?»
Er lächelte. «Ja.»
Doch es war ein Schock, als hätte sie herausgefunden, dass in den Wäldern tatsächlich der grüne Mann lebte oder dass in mondhellen Nächten Hexen auf Besenstielen herumflogen. Da war sie, ragte in den Himmel. So etwas hatte Campion noch nie gesehen, und doch war es gleichzeitig seltsam vertraut. Sie stand ganz in der Nähe der großen Gipsfigur der Justitia, die über dem Tod ihrer Opfer aufragte.
Plötzlich keuchte Campion auf. «Sie benutzen sie!»
«Selbstverständlich! Jeden Tag!»
Sie nahm ihn am Arm. «Kommen Sie!»
Zwar hatte sie die Menschenmenge gesehen, sich aber nicht vorgestellt, dass sie einer Exekution zuschaute. Menschen überquerten den riesigen Platz, als gäbe es nichts Besonderes, und nur das Aufblitzen des Fallbeils, das den hohen Rahmen hinaufgezogen wurde, hatte ihr verraten, dass sich Paris so an diesen Anblick gewöhnt hatte, dass die meisten Passanten nicht einmal mehr stehen blieben, um zuzusehen. Der Tod war inzwischen alltäglich. Sie rümpfte die Nase. «Es riecht!»
«Sie wollen ein ‹sangueduct› bauen.»
«Ein was?»
«Eine Rinne, die das Blut in die Seine leitet.» Er lächelte auf sie hinab. «Der Platz hat so viel Blut aufgesogen, dass er regelrecht stinkt.»
Ein dumpfer Schlag war zu vernehmen, gefolgt von Beifall. Sie versuchte es zu ignorieren, doch Skavadale blieb stehen. Sie schaute zu ihm auf. «Können wir nicht weitergehen?»
«Sehen Sie hin.»
Sie schaute hin. Eine Frau stieg die Stufen hinauf. Selbst auf die Entfernung konnte Campion erkennen, dass man ihr die Haare abgeschnitten hatte. Paris mit seinem derben Humor nannte den Haarschnitt, den jeder Gefangene verpasst bekam, «la Toilette» .
Ein Mann packte ihren rechten Arm, der Scharfrichter mit der roten Schürze den linken und ein dritter Mann ihre Beine. Die Frau wurde nach vorne gestoßen, mit dem Gesicht zu dem Brett, und nachdem der dritte Mann, der eine Rose zwischen den Zähnen hatte, sie mit einem Riemen festgebunden hatte, kippten sie das Brett, und der Scharfrichter schob die obere Lünette hinunter.
Dann trat er zur Seite, zog an dem Seil, und Campion hörte das schabende Klappern, den dumpfen Aufschlag und den Beifall der Menge.
«Sie können die Augen jetzt öffnen.»
«O Gott!» Sie sah, wie der kopflose Leichnam vom Podium gehievt wurde. «Mir wird übel.»
«Nein.» Er ging mit ihr auf dem Kopfsteinpflaster auf und ab.
Erneut hörte sie das schabende, raspelnde Fallen des Beils, den dumpfen Aufschlag und den Jubel. «Wie oft noch?»
«Bis niemand mehr zum Töten übrig ist.»
Edmund Burke hatte dies prophezeit. Er hatte gesagt, die Revolution werde
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