Die dunklen Farben der Begierde (German Edition)
verändert haben?, fragte sie sich. Würde es sie wirklich freuen, sie hier auf dem Sofa wartend vorzufinden?
Die Tür flog auf, und Lucy, mit einem luftigen Etwas aus Tüll und Spitze auf ihren Korkenzieherlocken, wirbelte in den Raum. Begleitet von Entzückensbekundungen bahnte sie sich eilig ihren Weg durch das Mobiliar, gefolgt von dem leisen Rascheln ihres zyklamroten Kleides. Clarissa stand auf, um sie zu begrüßen.
«Himmelherrgott», sprudelte Lucy und ergriff Clarissas Hände. «Alicia hatte mir zwar schon angekündigt, dass du dich zu einem hübschen Mädchen gemausert hättest, aber sie hat mir vorenthalten, wie schön du bist!» Sie trat zurück und ließ ihre Augen bewundernd von Clarissas dunklen Locken bis hinunter zum gerüschten Saum ihres Musselinkleides wandern. «Ha, liebe Kusine, dein Aussehen wird dich eines Tages nochmal ganz schön in Schwierigkeiten bringen, da bin ich sicher. Wie findest du London? Und die gute Tante Hester? Und ich habe gehört, Lord Marldon hat dir noch nicht seine Aufwartung gemacht? Männer! Komm, setz dich hin, Clarry. Erzähl mir alles. Ich werde uns einen Tee kommen lassen. Nein, nein. Einen Madeira lieber, was meinst du? Wir haben doch etwas zu feiern.»
Clarissa nickte schweigend als Zeichen ihrer Zustimmung, was ihre Kusine schon nicht mehr wahrnahm, weil sie schon wieder auf dem Weg zur Tür war. Sie scherte sich nicht um die Glocke, sondern rief ihren Wunsch nach Wein und Kuchen hinaus in die Halle. Sie hastete in den Raum zurück, zog die Nadel aus ihrem Hut, setzte ihn ab und erzählte fröhlich plappernd von all den Orten, die Clarissa sehen, und den Menschen, die sie unbedingt kennenlernen müsse. Wirklich, London sei der wunderbarste Platz, um seinen Sommer zu verbringen. Und wenn Lord Marldon schon nicht in der Stadt wäre, dann sollte Clarissa doch wenigstens so lange auch allein ihren Spaß haben, bis er geruhte, sie mit seiner Anwesenheit zu beehren. Es würde doch absolut keinen Sinn machen, Trübsal zu blasen und einfach nur auf seine Lordschaft zu warten, oder?
Clarissa war dankbar, dass Kusine Lucy Luft holen musste, als der Wein gebracht wurde. Das gab ihr Gelegenheit, auf die vielen Fragen zu antworten, und die beiden kicherten über Tante Hesters schreckliche Mattigkeit und die Veränderungen, die Alicia bei Mr. Longleigh bewirkt hatte. Schließlich fragte Clarissa, während sie nervös am Stiel ihres diamantgeschliffenen Glases herumfummelte: «Hast du jemals den Earl of Marldon getroffen?»
«Hmm», murmelte Lucy und leckte sich dabei die Kuchenkrümel von den Fingern. «Es ist schon eine Weile her, und ich muss gestehen, dass ich ihm seinerzeit kaum Beachtung geschenkt habe. Natürlich, er sieht sehr gut aus. Aber lass mich dir einen Rat geben, liebe Kusine. Denk nicht allzu viel an ihn. Denn wenn du das tust, wirst du vor Ungeduld halb verrückt sein, noch bevor der Monat vorüber ist. Suche dir Dinge, die dich ablenken, vielleicht einen hübschen jungen Mann, der dir die Zeit vertreibt. Denn immerhin …»
«Lucy!», kam es tadelnd von Clarissa, die keinen Versuch unternahm, ihre Entrüstung zu verbergen. «Wie kannst du so etwas sagen?»
«Na, was können ein paar verstohlene Küsse schon schaden?», sagte sie und hob die Schultern. Sie schenkte noch mehr von dem süßen goldenen Wein ein, obwohl Clarissa darauf bestand, dass sie mit einem Glas bereits genug hätte.
«In London ist das ganz anders als auf dem Land, weißt du», fuhr sie munter fort. «Nur die unwichtigen Leute, die armen Narren, sind hier treu. Die eigentliche Tugend hier ist die Diskretion. Ach, und so mancher schert sich noch nicht mal um diese. Im Übrigen: Wie willst du wissen, ob du Marldon wirklich begehrst, wenn da niemals ein anderer gewesen ist, mit dem du ihn vergleichen kannst? Du Unschuldslämmchen, ich möchte wetten, du hast bislang noch nicht mal einen Mann geküsst, oder?»
Clarissa schüttelte den Kopf und wünschte sich verzweifelt, es wäre anders. Plötzlich fühlte sie sich, als sei sie die langweiligste, prüdeste Person auf der ganzen Welt. Lucy Singleton wusste alles über das Leben und die Männer, wohingegen sie keine Ahnung hatte. Kein Zweifel, dass ihre Kusine sie kaum ernster nehmen konnte als ein Kind.
«Aber ich – ich weiß schon …», stammelte Clarissa. Sie wollte unbedingt Lucys Freundschaft gewinnen und war verzweifelt bemüht zu beweisen, dass sie nicht vollkommen ahnungslos, kein bedauernswerter Niemand war. In einer
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