Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
erinnerte sie sich an die Verachtung, die er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte – er hatte den Gedanken, jemand könne Kaiser Michaels Macht an sich reißen, rundheraus für lächerlich erklärt. Ihr war bewusst, dass, wer auch immer einen solchen Versuch unternahm, zuvor die Männer der Waräger-Wache überwältigen musste. Dimitrios kannte sie, hatte sogar Freunde unter ihnen. Sie würden sich nicht ohne weiteres ausschalten lassen, es sei denn, man hätte ein ganzes Heer auf seiner Seite.
Antonios als Feldhauptmann hätte das gewusst.
Auch die Marine und die Kaufleute würde brauchen, wer den Kaiser durch einen anderen ersetzen wollte, und die hatte Ioustinianos von seinen zahlreichen Geschäften gekannt.
Außerdem war der Zugriff auf die Schatzkammer nötig, wofür man fähige Finanzberater brauchte. Inzwischen hatte Anna erfahren, dass Theodoros Doukas, ein Vetter Irenes, Schatzkanzler war, und sie wusste auch, dass die beiden
einander nahestanden. Manche Leute hatten sogar augenzwinkernd erklärt, die glänzenden Leistungen des Schatzkanzlers seien Irenes Weitblick und ihrer hoch entwickelten Gabe für den Umgang mit Zahlen zu verdanken.
Und welche Rolle wäre dem reizenden, munteren Esaias Glabas zugefallen? War er womöglich klüger, als man allgemein annahm? Und was war mit Helena – war sie einfach nur Bessarions Gattin oder auch an der Verschwörung beteiligt gewesen?
»Sie sind nicht so tief, wie ich befürchtet hatte«, sagte Anna und tupfte vorsichtig den Eiter von einer der Wunden. »Ich denke, dass sie heilen werden, ohne Narben zu hinterlassen. Bei meinem vorigen Besuch habe ich mich übrigens ein wenig mit Dimitrios unterhalten. Es war äußerst interessant.«
»Also wirklich …«, sagte Irene in zweifelndem Ton.
»Doch.« Anna legte den Verband an und fuhr fort: »Ich habe gehört, dass er Freunde unter den Warägern hat.« Sie beugte erneut den Kopf.
»Ja«, bestätigte Irene und zuckte zusammen, als eine der größeren Wunden ausgewaschen wurde. »Ich nehme an, sie sind dankbar, dass sich ein Mann seiner gesellschaftlichen Stellung mit ihnen angefreundet hat. Die Angehörigen so mancher Adelsfamilie haben sie weniger freundlich behandelt. Nicht unbedingt rüpelhaft, aber so, als wären sie Luft.« Sie lächelte trübselig. »Wie gute Diener.«
»Ihr meint Bessarion Komnenos? Oder Ioustinianos Laskaris? «
»Ihn eigentlich nicht. Natürlich hat Bessarion in ihnen überwiegend Heiden gesehen, auf jeden Fall in denen aus dem Norden.« Sie biss sich auf die Lippe, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien.
Anna tat so, als merke sie nichts davon. »Jemand hat mir gesagt, dass Esaias Glabas ein begabter junger Mann ist. Stimmt das?«
»Großer Gott, nicht die Spur!«, sagte Irene mit offenkundiger Verachtung. »Er kann eine Geschichte gut erzählen und kennt eine Unzahl von Witzen, von denen die meisten nicht für weibliche Ohren geeignet sind. Er kann schmeicheln und sogar dann Haltung bewahren, wenn man ihn reizt.«
Anna lächelte. »Ihr konntet ihn nicht leiden.« Sie sagte das eher als Feststellung denn als Frage.
»Er ist nicht tot«, fuhr Irene sie an. »Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Ich nehme an, dass mir Dimitrios das gesagt hätte.«
»Waren die beiden Freunde?« Anna hob den Blick von ihrer Arbeit.
»Ich glaube schon. Esaias war eigentlich als Gefährte für Andronikos, den Sohn des Kaisers, vorgesehen. Sie sind miteinander ausgeritten und gemeinsam zum Pferderennen gegangen. Und natürlich haben sie miteinander getrunken, sich dem Glücksspiel hingegeben und sich überhaupt nach Kräften amüsiert.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Bessarion gefallen hat«, sagte Anna. »Soweit ich gehört habe, war er bemerkenswert ernsthaft.«
»Ihr meint ›humorlos‹«, sagte Irene trocken und warf einen Blick auf die Wunde, während Anna sie verband. »Aber Ihr habt Recht, Bessarion konnte Esaias nicht ausstehen. Ich nehme an, dass er ihn lediglich benutzt hat.«
Anna holte tief Luft und fragte unsicher: »Bei seinen Bemühungen, die … Kirche … zu retten?« Sie ließ ihre Stimme verwirrt klingen, als verstehe sie nicht recht. »Ich kann
mir gar nicht vorstellen, dass er sich mit … derlei Sinnenkitzel abgegeben hat.«
Einen Augenblick lang trat in Irenes Augen Mitleid mit dem seiner Männlichkeit beraubten Eunuchen, für den sie Anna hielt und der nichts von den Wonnen und Schwächen seines Geschlechts wusste. »Das hat er auch nicht«, sagte sie.
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