Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
»Ioustinianos übrigens auch nicht. Esaias hatte ein gewaltiges Fest mit Pferderennen geplant, aber am Vorabend dieses Ereignisses hat man Bessarion ermordet. Sicherlich wäre das eine überwältigende Sache geworden, denn Esaias war ein glänzender Gastgeber – diese Eigenschaft gehört unbedingt auf die Liste seiner Vorzüge.«
Anna heuchelte Interesse. »Tatsächlich? Pferderennen können sehr spannend sein. Vermutlich hätten alle an dem Fest teilgenommen, sogar Bessarion?«
Irene zögerte.
»Oder etwa nicht?« Annas Herz schlug so laut, dass sie glaubte, man könne es hören.
Irene wandte den Blick ab. »Nein. Soweit ich weiß, sollte Bessarion zu diesem Zeitpunkt zu einer Audienz vor dem Kaiser erscheinen.«
Die Stille lastete in dem Raum. Anna machte sich daran, die unbenutzten Binden aufzuwickeln und einzupacken. »Der Kaiser hätte also nicht teilgenommen?«
»Das dürfte jetzt unerheblich sein«, sagte Irene mit plötzlich scharfer Stimme. »Bessarion und Antonios sind tot, und Ioustinianos lebt in der Verbannung.« Sie sah auf ihre verbundenen Arme. »Danke.«
»Ich komme morgen wieder, um die Verbände zu erneuern«, sagte Anna und erhob sich. »Außerdem werde ich weitere Kräuter mitbringen.«
Am Abend beschäftigte sich Anna in ihrer Kräuterkammer damit, getrocknete Blätter zu zermahlen und im Mörser Wurzeln und Stiele zu zerstoßen, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass nie zwei Kräuter miteinander in Berührung kamen. Während sie überlegte, was sich den bislang gewonnenen Angaben entnehmen ließ, jagten sich die Gedanken in ihrem Kopf.
Hatte sie alle wichtigen Teile beisammen und musste sie nur noch richtig anordnen?
Der Mord an Bessarion hatte sich am Vorabend des Tages ereignet, an dem er zusammen mit Ioustinianos und dem Kronprinzen Andronikos im Kaiserpalast an dem von Esaias Glabas ausgerichteten Fest hatte teilnehmen sollen.
Offensichtlich war es die Absicht der Männer um Bessarion gewesen, den Kaiser zu töten, um Bessarion auf den Thron zu bringen. Ioustinianos hätte ihm Beistand geleistet. Esaias’ und Antonios’ Aufgabe wäre es gewesen, Andronikos festzuhalten, wenn nicht gar ebenfalls zu töten. Dann hätte Bessarion die kirchentreuen Untertanen aufgerufen, ihn zu unterstützen, und alle Zusagen für den Zusammenschluss mit Rom zurückgezogen. Dafür hätte er selbstverständlich die Mitwirkung des Bischofs Konstantinos benötigt.
Ganz offensichtlich hatten die Verschwörer alle denkbaren Schwierigkeiten bedacht und für Möglichkeiten gesorgt, sie zu überwinden. Ioustinianos hätte sich dann wohl um die Kaufleute und die Hafenmeister kümmern sollen und Antonios um die Heerführer. Dimitrios wäre die Aufgabe zugefallen, diejenigen Angehörigen der Waräger-Wache, die in jener Nacht Dienst hatten, zu bestechen oder auf andere Weise auf die Seite der Verschwörer zu ziehen
und dafür zu sorgen, dass sie, sobald der Kaiser tot war, dessen Nachfolger Bessarion den Treueid leisteten.
Wer war dazu ausersehen gewesen, den Todesstoß gegen Michael zu führen? Nie und nimmer hätten die Waräger der kaiserlichen Leibwache jemanden dafür nahe genug an ihn herangelassen. Mithin blieb nur eine Möglichkeit: Für diese Tat war Zoe ausersehen gewesen. Wenn sie überzeugt war, dass sie damit Byzanz retten konnte, wäre sie nicht davor zurückgeschreckt.
Anna füllte Pulver in ein Gefäß, das sie mit einem Etikett kennzeichnete, säuberte ihre Gerätschaften und überlegte weiter.
Schon früher war es in Byzanz zu Dynastiewechseln unter Gewaltanwendung gekommen, und zweifellos würde es das auch künftig geben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr hielt sie Bessarion für genau die Art von Fanatiker, die ein solches Vorgehen nicht nur für notwendig hielt, sondern geradezu für eine edle Tat.
Diese Erklärung warf viele Fragen auf, die sie keinesfalls unberücksichtigt lassen durfte. Sie würde der Sache noch gründlicher nachgehen müssen, dabei aber bedeutend größere Vorsicht walten lassen. Sie durfte keinen Augenblick lang vergessen, dass eine ganze Reihe der Verschwörer noch am Ort lebte und möglicherweise auf der Suche nach einem neuen Thronanwärter war. Vielleicht nach einem vom Schlage des Dimitrios Vatatzes?
Sie erschauerte, als sie merkte, wie sich bei diesen Erwägungen ihr Magen verkrampfte.
Der nächste Patient, den sie behandelte, brauchte über mehrere Tage hinweg ihre volle Aufmerksamkeit. Er lebte im venezianischen Viertel unten am
Weitere Kostenlose Bücher