Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
der ganzen Christenheit. Wieder einmal hatte die Welt niemanden, der ihr mitteilte, was Gottes Stimme sagte.
Palombara erfuhr im Kaiserpalast vom Tod des Papstes, wo er sich zu einer Audienz beim Kaiser aufhielt. Jetzt stand er in einer der großen Galerien vor einer Statue von überirdischer Schönheit, die aus dem antiken Griechenland stammte, aus der Zeit vor Christi Geburt. Sie war eine der wenigen, welche die Verwüstung der Stadt überdauert hatten. Nur eine kleine Absplitterung an einem Arm zeigte, dass auch sie der Zeit und dem Wandel unterworfen war.
Als Anna auf dem Rückweg von einem Patienten durch diese Galerie kam, sah sie Bischof Palombara, der so tief in Gedanken versunken zu sein schien, dass er ihre Anwesenheit nicht bemerkte. Sein Gesicht, dessen Züge er in diesem Augenblick nicht bewusst kontrollierte, zeigte ihr eine solche Empfänglichkeit für Schönheit, als könne jene mühelos an allen von ihm errichteten Schranken vorüber in sein tiefstes Inneres gelangen und all seine Wunden berühren.
Er ließ es in diesem Augenblick zu, denn ein Teil seines Wesens sehnte sich nach einem alles überwältigenden Gefühl, selbst wenn es mit Schmerz verbunden war. Doch es entzog sich ihm – das erkannte Anna an dem kaum wahrnehmbaren Aufblitzen in seinen Augen, als er sich ihr zuwandte.
Dann ging er schweigend, und sie schämte sich, in sein
Innerstes eingedrungen zu sein, auch wenn es gänzlich unabsichtlich geschehen war.
Sie hörte rasche Schritte und fuhr herum. Warum nur fühlte sie sich so ertappt? Nur weil sie einen Augenblick lang mit einem Abgesandten Roms empfunden hatte? Das war der Kernpunkt des Schismas: Bei der Kirchenspaltung ging es in Wahrheit nicht um das Wesen Gottes, sie ging auf das dem Wesen der Menschen eigene Gift zurück. Es trennte die beiden Seiten scharf voneinander und bewirkte, dass man Angst hatte, die Hand auszustrecken, um die Trennlinie zu überwinden.
KAPİTEL 44
Zwischen Mai und November kam es im Tauziehen zwischen Rom und Byzanz erneut zu einer langen Pause, bis gegen Ende November Papst Nikolaus III. gewählt wurde. Da er aus Italien stammte und die Interessen seiner Heimat vertrat, setzte er Charles von Anjou als römischen Senator ab. Auf diese Weise verhinderte er, dass dieser künftig an Papstwahlen teilnahm, und verkleinerte damit dessen Machtbasis entscheidend. Außerdem sicherte und stärkte er seine eigene Position, indem er die hohen Ämter in seinem unmittelbaren Umfeld mit Brüdern, Neffen und Vettern besetzte.
Als Nächstes forderte er von Byzanz eine erneute Bekräftigung des Zusammenschlusses der römischen und der orthodoxen Kirche. Diesmal sollten statt des Kaisers und seines Sohnes sämtliche Bischöfe und Angehörige der höheren Geistlichkeit die Verzichterklärung der Byzantiner Kirche unterzeichnen.
Als Anna Bischof Konstantinos traf, erkannte sie dessen Verzweiflung.
»Ich hätte das nicht tun sollen«, sagte er mit belegter Stimme. »Aber wie hätte ich annehmen können, dass es falsch war?« Es sah aus, als werde er im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen. Er schien aus der Wirklichkeit fliehen zu wollen, die ihm unerträglich war. Mit flehend ausgestreckten Händen klagte er: »Papst Johannes hat den Kaiser gezwungen, sich ihm schriftlich zu unterwerfen, und nur einen Monat später ist ihm die Decke seines Palasts auf den Kopf gefallen. Das war die Hand Gottes. Es kann gar nicht anders sein.«
Sie hörte schweigend zu.
»Ich habe es den Leuten gesagt«, fuhr er mit Nachdruck fort. »Selbst die Kardinäle in Rom hätten es begreifen müssen. Auf was für Zeichen warten sie denn noch? Zweifeln sie etwa daran, dass Gott die Mauern der Stadt Jericho wegen der darin lebenden Sünder hat einstürzen lassen?« Beschwörend hob er die Stimme. »Das, habe ich ihnen gesagt, ist das Wunder, auf das wir gewartet haben. Ich hatte ihnen versprochen, dass uns die Heilige Jungfrau retten würde, wenn wir nur fest im Glauben blieben.« Er rang nach Atem. »Ich habe sie alle verraten.«
Sie war peinlich berührt und fand seinen Auftritt beschämend. Eine solche Glaubenskrise musste man mit sich selbst ausmachen und nach außen hin so tun, als sei nichts geschehen. »Niemand hat gesagt, es würde einfach sein, ohne Schmerzen abgehen und wir würden stets die Oberhand behalten«, setzte sie an. »Zumindest niemand, der die Wahrheit liebt. Die Kreuzigung muss den Menschen vorgekommen sein wie das Ende der Welt.«
Er stieß den Atem schwer
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