Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
großen Empfangsraum das Geld für die Kräuter gab, sah sie die aufwendig frisierte Helena in einer goldgesäumten hellen Tunika. Unwillkürlich verglich sie sie mit Zoe, wobei Helena nicht gut davonkam.
»Danke«, sagte Anna, als ihr Dimitrios die Münzen gab. »Ich komme morgen oder übermorgen wieder. Ich finde,
dass die Besserung des Zustandes Eurer Mutter gute Fortschritte macht, und so könnte bald der Augenblick gekommen sein, sie auf andere Weise weiterzubehandeln.« Sie verschwieg, dass sie sich davor fürchtete, das von ihr verwendete Betäubungsmittel zu hoch zu dosieren, denn auf keinen Fall wollte sie, dass sich Irene an das künstlich erzeugte Wohlgefühl gewöhnte, sondern es ihr nur so lange geben, wie es nötig war, damit sich Irene der Rückkehr ihres Gatten stellen konnte.
»Lasst die Behandlung, wie sie ist«, sagte Dimitrios rasch mit besorgter Miene. »Sie tut ihr gut.«
Anna ging zu ihren nächsten Patienten. Als sie sich schließlich auf den Heimweg machen konnte, stieg sie trotz ihrer Müdigkeit zuvor noch die Stufen zu ihrer Lieblingsstelle empor, von der aus der Blick weit über das Meer schweifte. Sie war noch nicht bereit, sich Leos besorgten Fragen nach ihrem Wohlergehen zu stellen oder in Simonis’ Blick zu sehen, wie deren Hoffnung, sie würden eines Tages Ioustinianos’ Schuldlosigkeit beweisen können, langsam erstarb. Vor allem die Stille dort oben zog sie an. Weder der Wind noch die Möwen störten ihren Gedankenflug.
Sie stand auf der kleinen ebenen Fläche am oberen Ende des Weges. Über ihr raschelte das Laub im Wind. Mit einem Mal schwanden die Farben am Horizont dahin, und die Dunkelheit begann sich auszubreiten.
Sie ärgerte sich, als sie von unten Schritte hörte, kehrte dem Pfad betont den Rücken zu und blickte nach Osten, wo die unscharf wahrzunehmende Küste von Nikaia bereits in der Finsternis lag.
Dann hörte sie, wie jemand ihren Namen sagte. Es war Giulianos Stimme. Sie brauchte einen Augenblick, um ihre
Fassung zurückzugewinnen, so dass sie ihn begrüßen konnte. »Seid Ihr wieder im Auftrag des Dogen hier?«, fragte sie.
Er lächelte. »Das nimmt er an. In Wahrheit bin ich gekommen, um den Sonnenuntergang zu genießen und mich mit Euch zu unterhalten.« Einen kurzen Augenblick lang hörte sie in diesen leicht hingeworfenen Worten Aufrichtigkeit. »Wenn man in die Heimat zurückkehrt, ist es dort nie so wie früher.« Er tat die letzten wenigen Schritte und stellte sich neben sie.
»Alles ist kleiner«, stimmte sie ihm zu. Auf keinen Fall durfte sie ihre drängenden Empfindungen zeigen. Sie war froh, dass der letzte Lichtschimmer in ihrem Rücken lag.
Er sah sie an. Die Anspannung auf seinem Gesicht löste sich ein wenig. Das Lächeln wurde entspannter, natürlicher. »Die Gasthäuser am Hafen sind die gleichen wie zuvor und die Auseinandersetzungen unter den Menschen ebenfalls. Auch das ist eine Art Heimat.«
»Wir Griechen streiten uns unaufhörlich«, erklärte sie. »Themen, zu denen es nur eine allgemein anerkannte Meinung gibt, lassen uns kalt.«
»Das habe ich bereits gemerkt«, sagte er spöttisch. Das vom Wasser zurückgeworfene Licht genügte noch, um den Schimmer seiner Haut zu sehen, die Lachfältchen um seine Augen. »Aber hat der Kaiser Eurer Freiheit zu streiten nicht zum Teil den Boden entzogen, indem er Rom Treue geschworen hat?«
»Weniger, als das bei einer Invasion der Fall wäre«, gab sie trocken zurück. »Früher oder später kommt es sicherlich zu einem neuen Kreuzzug.«
»Ich denke früher«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich beklommen.
»Seid Ihr gekommen, um uns zu warnen?«
Er sah auf seine Hände, die auf dem groben Holz des Geländers lagen. »Das ist nicht nötig. Ihr wisst ebenso gut wie alle anderen, dass es dahin kommen wird.«
»Wir streiten uns immer noch über Gott und darüber, was Er von uns erwartet.« Sie wechselte das Thema. »Jemand hat mich neulich darauf angesprochen, und da habe ich gemerkt, dass ich nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte.«
Er runzelte die Brauen. »Ich nehme an, die Kirche würde sagen, dass für Ihn nichts, was wir tun können, von Bedeutung ist und dass Er Gehorsam und Lobpreis verlangt.«
»Habt Ihr es gern, wenn man Euch lobt?«, fragte sie.
»Gelegentlich. Aber ich bin nicht Gott.« Erneut tanzte das Lächeln über seine Züge.
»Ich auch nicht«, gab sie ernsthaft zurück. »Und Lob mag ich nur dann, wenn mir etwas Schwieriges gelungen ist und ich weiß, dass es
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