Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
Seifenoper lief. In dem Bett hinter ihnen lag eine alte Frau mit lila gefärbten Haaren und schnarchte laut vor sich hin, während ihr Gebiss in einem Glas auf dem Nachttisch lag.
»Wow, Adelaide« , sagte eine sonnengebräunte Blondine mit makellosem Gebiss und einem Waschbrettbauch. »Soll das heißen, das Baby da gehört mir?«
Dramatische Musik, Großaufnahme von einer übertrieben geschminkten Brünetten mit aufgepumpten Brüsten. Schnitt und Werbung. Treppenlifte. Kartoffelchips. Waschpulver. Und dann füllte plötzlich das Gesicht von Gerald Cleaver den Bildschirm aus. Er saß in einem ledernen Ohrensessel, trug eine Strickweste und wirkte überhaupt wie das Musterbild des guten Onkels von nebenan. »Sie haben versucht, mich als Monster darzustellen!« , sagte er. Schnitt zu Cleaver beim Spaziergang mit einem lebhaften Labrador. » Sie haben mir schreckliche Verbrechen zur Last gelegt, die ich nie begangen habe! « Wieder ein Schnitt, und jetzt sah man Cleaver auf einer niedrigen Bruchsteinmauer sitzen und mit ernster, leidender Miene in die Kamera blicken. »Lesen Sie alles über mein Jahr in der Hölle – diese Woche exklusiv in der News of the World !«
»O Gott«, stieß Logan hervor, als das Logo der Zeitung über die Mattscheibe wirbelte. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
34
Logan und Watson schimpften um die Wette, als sie zum Überwachungsraum zurückgingen – über die Zeitung und ihre Entscheidung, Gerald Cleaver für seine Geschichte Geld zu geben. Als sie ankamen, stürzte der picklige Jüngling in der hässlichen braunen Uniform gerade mit wild entschlossener Miene zur Tür heraus und rückte sich im Laufen die Mütze zurecht.
»Gibt’s Ärger?«, fragte Logan.
»Im Kiosk klaut gerade jemand Marsriegel!« Und schon rannte er los.
Sie sahen ihm nach, wie er mit fliegenden Beinen und rudernden Armen um die Ecke schoss, um so schnell wie möglich am Tatort zu sein. » Die haben Probleme«, meinte Watson mit einem schiefen Lächeln.
Ein zweiter Sicherheitsbediensteter – ein kräftiger Mann von Anfang fünfzig mit überkämmter Glatze und Augenbrauen wie ein Terrier – saß jetzt an der Konsole. Er las die Morgenzeitung und trank dabei aus einer Flasche Lucozade. » Mutmasslicher Kindermörder erstochen! « stand in fetten Lettern auf der Titelseite. Als Logan ihm erklärte, warum sie hier waren, brummte er etwas Unverständliches und deutete auf einen Stapel beschrifteter Videokassetten.
Logan und Watson nahmen vor einem der Monitore mit Videorekorder Platz und begannen sich durch die Bänder zu arbeiten. Die uniformierten Kollegen, die vor ihnen hier gewesen waren, hatten ihnen die Arbeit schon wesentlich erleichtert, indem sie alle Bänder bis zum Zeitpunkt von Roadkills Ermordung vorgespult hatten. Systematisch gingen Logan und Watson sie eins nach dem anderen durch, während der Wachmann im Hintergrund seinen Energiedrink schlürfte und geräuschvoll an seinen Zähnen sog.
Auf dem Bildschirm waren schemenhafte Gestalten zu erkennen, die sich ruckartig bewegten – die Kamera machte nur alle drei oder vier Sekunden eine Aufnahme, wodurch das Ganze an einen experimentellen kanadischen Animationsfilm erinnerte. Die Gesichter waren ziemlich verschwommen, aber man konnte sie dennoch erkennen, wenn sie nicht zu weit von der Kamera entfernt waren. Nach einer halben Stunde hatte Logan schon eine Hand voll unter den Hunderten von Personen wiedererkannt, die das weitläufige Gebäude bevölkerten: den Arzt, der Desperate Doug behandelt hatte; die Schwester, in deren Augen er ein Monster war, weil er einen alten Mann zusammengeschlagen hatte; den Constable, der den greisen Berufskiller bewachen sollte; die Ärztin, die Roadkill am Abend für tot erklärt hatte; den Chirurgen, der sieben Stunden damit zugebracht hatte, Logans Eingeweide wieder zusammenzunähen; und schließlich Schwester Henderson, deren blaues Auge deutlich zu erkennen war, als sie in Straßenkleidung – Rugby-Shirt, Jeans und Turnschuhe – durchs Bild stapfte. Über die Schulter hatte sie eine Sporttasche geschlungen.
»Wie viele Kassetten haben wir noch?«, fragte Logan, während Watson herzhaft gähnte und ihre müden Glieder streckte.
»’tschuldigung, Sir«, sagte sie und nahm wieder Haltung an. »Noch zwei von den Ausgängen, dann sind wir durch.«
Logan schob die nächste Kassette in den Rekorder. Ein Seiteneingang des Krankenhauses. Gestalten huschten vorüber; die einen unterhielten sich lachend, andere
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