Die Durchschnittsfalle (German Edition)
konnte, wie es beschaffen sein würde. Nehmen wir an, die Schadstoffkonzentrationen ändern sich oder der pH-Wert steigt oder fällt (stellen Sie sich doch einfach vor, es wirft jemand einen Kaugummi in unsere Pfütze). Auf jeden Fall steht die Individualität in unserem System schon wieder auf dem Prüfstein. Hoffentlich haben wir genügend Verschiedene und eine möglichst hohe Varianz in unserem System. Und Gott (?) sei Dank, es sind wieder ein paar dabei, die jetzt den neuen pH-Wert aushalten können. Diese Tierchen, die sich erneut wundern, warum es den anderen so schlecht geht, gehören zu einer Generation, deren Vorfahren bereits die höhere Wassertemperatur ausgehalten haben. Dementsprechend weisen sie auch eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, jetzt schon beides zu können, einerseits die höhere Temperatur und andererseits den geänderten pH-Wert auszuhalten. Es ist Ihnen sicher schon aufgefallen: Nicht nur, dass eine hohe Varianz und Individualität die Chancen enorm steigert, auf Fragen aus der Zukunft, die man nicht kannte, eine Antwort zu haben. Unser System, die Hydren in unserer Pfütze lernen mit jeder dieser so gefürchteten / spannenden Fragen aus der unvorhersehbaren Zukunft sogar dazu. Zuerst die Wassertemperatur auszuhalten, dann den pH-Wert …
Einen wichtigen Aspekt möchte ich in diesem Buch hier das erste, aber sicher nicht das letzte Mal aufwerfen: Was könnten jene Tierchen, die die geänderten Umweltbedingungen aushalten, denn auf die Fragen aller anderen zum Sterben verdammten Hydren „Warum müsst ihr nicht sterben? Wieso seid ihr in der Lage, das auszuhalten?“ antworten? Sie haben sich diese vorteilhaften Eigenschaften nicht selbst angeeignet, sie haben sie von Geburt an und es ist ihnen wahrscheinlich selbst nicht ganz klar, warum sie darüber verfügen. Und hätte sich die Umwelt nicht geändert, hätten sie auch nie erfahren, dass diese Eigenschaften einmal von Vorteil sein könnten. Ein schlummerndes Potenzial, das erst durch neue Fragen erweckt wird. Vielleicht antworten sie einfach: „So etwas hat man, oder man hat es eben nicht. Und ihr habt es offensichtlich nicht.“ Ich komme darauf noch zurück.
Wenn wir schon von Pfützen reden. Vor etwa vier Milliarden Jahren dürften in einer besonderen „Urpfütze“ aus anorganischen Molekülen organische entstanden sein. Damit dürfte wohl der Beginn jenes biologischen Prozesses eingeläutet worden sein, dessen Grundprinzip Charles Darwin entdeckte und wofür er die große Bedeutung sexueller Fortpflanzung postulierte. Durch Mutation, Selektion und Isolation haben die Organismen über die Generationen „dazugelernt“, aus ihrer Pfütze einmal rauszukrabbeln, auf allen Vieren zu laufen, später aufrecht auf zwei Beinen zu gehen, sie haben Haare verloren, ihre Eckzähne wurden kleiner und das Gehirn größer. Leider scheint das Gehirn aber bis heute nicht groß genug geworden zu sein, um zu verstehen, dass all das nur möglich war, indem ein höchstes Maß an Individualität gefördert und gefordert wurde. Wenn alle möglichst gleich, also nah am gemeinsamen Durchschnitt sind, gerät das System schon bei der ersten neuen Aufgabe aus der Zukunft ins Wanken. Das wohl bedeutendste Grundprinzip der Biologie, die Evolution, ist der Beweis für die Bedeutung von Individualität als Chance, sich auf eine unbekannte Zukunft vorzubereiten. Und Sie sind das Ergebnis – sagen Sie jetzt nicht, das ist kein erfolgreiches Konzept! Der Durchschnitt im Sinne von möglichst vielen Gleichen allerdings ist nicht nur ein völlig zahnloses Instrument, nein, er ist sogar eine evolutive Sackgasse.
Migration ist Teil der Evolution
Am Ende dieses Kapitels erlaube ich mir, ein paar Schlussfolgerungen aus dem bisher Gesagten zu ziehen, die wahrlich und sicherlich nicht mit Biologie und Genetik allein zu tun haben. Sollte ein Land glauben, es wäre eine gute Idee, rund um seine Pfütze einen großen Zaun zu bauen, damit da niemand raus kann oder, offensichtlich als noch wichtiger eingestuft, damit da niemand rein kann, ist dieses Land automatisch vom Aussterben bedroht. Durchmischung steigert die Individualität in unserem System und ist folglich eine unverzichtbare Komponente der Evolution. Migration steigert die Individualität in jedem System und ist daher eine unverzichtbare Komponente der Evolution.
Sie werden sehr bald sehen, dass ich in diesem Buch für die große Bedeutung des Verständnisses um die Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelt zur
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