Die Ecstasy-Affäre
verwahrt, zehn bläuliche Tabletten. Auch sie hatten eine Prägung: einen Häschenkopf mit langen, aufrecht stehenden Ohren.
»Die Pille ›Playboy‹«, sagte Reiber und hob den Plastikbeutel auf. »Wird vor allem in Berlin vertrieben. Herkunft höchstwahrscheinlich Polen. Ein Sauzeug voller Verunreinigungen. Die Wirkung ist nicht mehr kontrollierbar.«
»Und jetzt ist sie in München. Gratuliere, Peter. Polenpillen, ein toter Pole im Westpark Ost, Stahldrahtmord à la Asien, eine Tote durch die Polenpille … Wann gehst du in Frühpension?«
Mittlerweile waren der Polizeiarzt und der Fotograf eingetroffen und machten sich an ihre Routinearbeit: Fotos der Leiche von allen Seiten, Großaufnahme des Gesichts mit den aufgerissenen Augen; eine erste Untersuchung mit Feststellung des Todes und die übliche Frage von Wortke:
»Ungefähre Todeszeit, Ludwig?«
Der Polizeiarzt blickte hoch. Er kniete vor der Toten. »Schwer zu sagen. Aber sie ist mindestens zehn Stunden tot.«
»Das heißt, der Tod kann gegen Mitternacht eingetreten sein.«
»So ungefähr. Todesursache Herzversagen. Aber Genaueres wissen wir erst nach der Obduktion.«
»Das kann ich dir jetzt schon sagen: Überdosis Ecstasy.« Reiber wandte sich ab, als die Zinkwanne in den Keller getragen wurde, in der man die ›Fundtoten‹ abtransportierte. Nur Wortke sah abgebrüht zu, wie man das Mädchen in die Wanne legte, ein Tuch darüber deckte und den Deckel zuklappte.
»Die Kleine ist nicht hier gestorben«, sagte Wortke plötzlich. »Der Fundort ist nicht der Tatort. Sie ist schon tot hierher transportiert worden.«
»Bravo. Das war mir von Anfang an klar.« Reiber wandte sich zu seinem Kollegen um. »Woran siehst du das, Theo?«
»Wir Mordknaben sind nicht so doof, wie ihr denkt. Zunächst: Keiner verkriecht sich in einen Abbruchkeller, um Ecstasy zu schlucken. Was soll er damit im Keller? Er schluckt die Pille in einer Disco oder vor einem Disco-Besuch, um in der Gemeinschaft high zu sein. Er will sein Lebensgefühl potenzieren, genau wie seinen Sexualtrieb. Er will keine Müdigkeit mehr spüren, sondern stundenlang unter dem Hämmern der Techno-Musik herumzucken. Er will, um im Jargon der Jugend zu reden, voll drauf sein. Sein Bewegungsdrang wird bis ins Extreme gesteigert … Was will er damit in einem einsamen Keller?«
»Ich bin sprachlos …«, gab Reiber zu.
»Endlich einmal!« Wortke grinste breit. »Nach deinem ersten Vortrag über Ecstasy im Zusammenhang mit dem Mordfall im Westpark Ost habe ich mir Drogenliteratur besorgt. Mir war klar, daß ich bald weitere Leichen auf dem Tisch liegen habe, und ich wollte nicht als Dümmling dastehen. Heutiges Resümee: Das Mädchen ist aus einer Disco oder von einer Privatparty hierher gebracht worden. Tot! Es gibt also eine Menge Mitwisser und Zeugen. Das hört sich gut für uns an.«
»Erfahrungsgemäß ja. Mitwisser oder Zeugen haben irgendwo einen Vertrauten, dem sie ihr Erlebnis erzählen. Und der Vertraute hat wieder einen Vertrauten … Und so wandert die Geschichte weiter, bis das Geheimnis an die Oberfläche kommt. Das ist tausendmal erlebt worden: der Kommissar Geschwätzigkeit.« Reiber blickte den Trägern nach, die die Zinkwanne die enge Kellertreppe hinaufwuchteten. »Nur, mein lieber Theo, in der Szene, mit der wir es hier zu tun haben, ist alles anders. Diese User, wie sie sich nennen, sind ein bunt schimmernder Fischschwarm, der sich untereinander versteht, aber sonst stumm ist. Da kannst du einen herausangeln – er weiß von nichts. Er kennt auch kein Schuldgefühl, weil es für ihn kein Unrecht ist, diese Pille zu nehmen. Sie ziehen sich nur eine glücklichere Welt rein und verstehen uns nicht, die wir sie davor schützen wollen. Techno-Kids leben in einer eigenen Welt, die sie sich selbst erschaffen. Es trifft sie deshalb auch wenig, wenn jemand an dieser Morddroge zugrunde geht. Hat eben Pech gehabt; im täglichen Leben bleiben auch ohne Ecstasy genügend auf der Strecke, und keiner ruft dann nach der Polizei. Oder hast du schon einmal erlebt, daß jemand zu dir kommt, wenn ein Jugendlicher sich aufhängt und einen Brief hinterläßt: ›Mein Mörder ist mein Arbeitgeber Johannes Schulze. Er hat mir gekündigt.‹ Ermittelst du dann wegen Mordes?«
»Blöde Frage«, knurrte Wortke.
»Um die User zu verstehen, müssen wir umdenken, Theo. Wir sind zu realistisch, und genau das wollen die Techno-Kids nicht. Sie wollen der Realität entfliehen und sich – für Stunden – eine
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