Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
»Wollen wir verhandeln?« Achtung, Moritz. Das klang verflixt nach »rundem Tisch« und »Moratorium«, nach »ergebnisoffener Diskussion« und »Heiner Geißler als Schlichter«, es musste also einen Haken an der Sache geben. Andererseits: Wenn vor der Tür jener Typ stand, der mich gestern auf die Bretter, sprich den Asphalt geschickt hatte, war Vorsicht geboten.
Es ging um freien Abzug. Das war keine Kapitulation, es war ein Gebot der Vernunft, ein Sieg des Pragmatismus, nur – wie bewerkstelligen? Mister X musste aus dem Weg, aus der Wohnung, aus dem Haus, er würde es nicht tun, so lange nicht gewährleistet war, dass der gefesselte Honig unbeschädigt aus der Geschichte herauskäme. Mein Vorteil war, dass Mister X nicht wusste, über welches Waffen- und damit Abschreckungsarsenal ich verfügte. Mein Nachteil war, dass ich das von Mister X genauso wenig wusste. Im Augenblick befanden wir uns also dort, wo sich die Welt über Jahrzehnte hinweg befunden hatte, mitten im kalten Krieg. Ein »NATO-Doppelbeschluss« war weit und breit nicht zu erkennen, kein Gorbatschow tauchte auf und erzählte etwas von Glasnost und Perestroika.
Ich sah mich in Honigs Schlafzimmer um und entdeckte sogleich, was ich entdecken wollte: Honigs Handy. Nahm es an mich, tastete ein wenig darauf herum, es funktionierte einwandfrei. »Hören Sie da draußen«, sagte ich dann, »Sie gehen jetzt runter in die Hausmeisterwohnung, ja? Und wecken den Hausmeister. Geben ihm Ihr Handy, lassen ihn das Handy von Honey anrufen. Okay?« Nach kurzem Zögern kam das Okay von jenseits der Tür zurück. »Der Hausmeister wird mir, während ich mich aus der Wohnung entferne, ständig berichten, was SIE gerade machen. Und ich rate Ihnen, unten zu bleiben, sich nicht im Treppenhaus blicken zu lassen. Falls Sie zuwiderhandeln, springe ich sofort wieder hoch und puste Honey dermaßen das Licht aus, dass nie mehr ein Bienchen an ihm naschen wird. Haben Sie das verstanden?«
Na ja, es klang nicht kompliziert, aber das Leben ist halt kompliziert, weil einige der menschlichen Gemüter so schlicht sind. Mister X hatte aber endlich kapiert, sagte »Gut, aber kein Scheiß, du Arsch« und entfernte sich hörbar aus der Wohnung.
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Die Aktion »Deeskalierende Maßnahmen zur Verhinderung von unnötigem Blutvergießen« klappte wie am Schnürchen. Ich verließ Honigs Wohnung, das Haus, hatte dem noch immer ans Bett Gefesselten eingeschärft, dass, so er mich angelogen hätte, beim nächsten Mal ein schickes Heftpflaster auch seine Nase am Atmen hindern würde, stand nun auf der Straße, rauchte eine Beruhigungszigarette und schlich heimwärts.
Honigs Informationen heischten nach Verarbeitung. Es ging also um Formeln, um geistiges Eigentum von wem auch immer, die Sache war heikel, gefährlich, hochkriminell, es gab Konkurrenz, die auch vor Mord nicht zurückschreckte, nur: Was hatten Lothar und die Weber-Geschwister damit zu schaffen? Ich dachte wieder an Sonja Weber, die sich in den schleimigen Fängen von Marxer befand. Ich dachte an Oxana, die sich leider nicht in meinen schleimigen Fängen befand. Ich dachte an Hermine, die ich vielleicht noch anrufen sollte, ich dachte an – eine Currywurst, weil ich Hunger hatte, ein schönes Bierchen, weil mich dürstete, ein weiches Bett, weil ich müde war.
Von all dem, was meine Gedanken beschäftigt hatte, schaffte es am Ende nur das weiche Bett in die Wirklichkeit, das heißt, weich ist auch etwas anderes, aber immerhin. Kein Anruf bei Hermine, keine Currywurst, kein Bier, nur, kurz bevor ich wegkippte in das Reich der Traumlosigkeit, ein knappes chaotisches Filmchen, in dem Georg Weber deshalb aus dem Weg geräumt wird, weil er den kriminellen Machenschaften seiner Firmenkollegen auf die Schli che gekommen ist, in dem Sonja Weber, von ihrem Bruder über Osterhase und Co. informiert, als nächstes potentielles Opfer auserkoren wird – und Lothar? Der weiß alles von Sonja und will seinen Reibach machen und kommt bösen Menschen in die Quere und... aus, vorbei, eingepennt.
Aus, vorbei, aufgewacht. Ich kochte eine schnelle Tasse Kaffee, trank sie noch schneller, sprang in meine Klamotten und eilte – hier bahnte sich ein kostspieliger Spleen an – zur Bäckerei, um mich mit einem fürstlichen Frühstück einzudecken, das ich mit niemandem, Borsig schon gar nicht, zu teilen gedachte. Auf dem Weg zurück hörte ich die ersten Detonationen von Feuerwerkskörpern, was mich daran erinnerte, dass morgen Silvester war und
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