Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
zu werden, ins Auge schauen mussten, wurde billigend in Kauf genommen und mit einem gewissen Bauchkribbeln erwartet.
Das Unterfangen entpuppte sich als schwierig, die meisten Hotels neckten uns mit »fermé«-Schildern. Dafür waren die Straßen angenehm frei, kein zähflüssiger Brei französischer Ferienmacher schob sich zwischen den massiven Häusern mit den breiten bretonischen Kaminen hindurch, dafür fuhren auch durch die engsten Gassen die dicksten Autos, denn eine Fußgängerzone gab es hier nicht. Ich hätte als eingefleischter Fußgängerzonenhasser den Asphalt küssen können.
»Pedro’s«. Von außen unscheinbarer Zweckbau (und von innen gewiss nicht mehr) dicht an der Mauer, hinter der schon das Lärmen der Brandung lockte, mit dem entscheidenden Vorteil: Es hatte geöffnet. An der Rezeption erwiesen sich die Trümmer meines Schulfranzösisch nach einigen Irrungen und Wirrun gen als in der Lage, dem freundlichen Angestellten klar zu machen, wir begehrten KEIN Doppelzimmer. Das sei aber wesentlich billiger, beharrte der gute Mann zunächst. »Je sais, mais...«, entgegnete ich und kaschierte meine Wortfindungsstörungen mit ausufernder, von allerhand Gesichtsgymnastik unterstützter Handgestik. Der Mann betrachtete Vika wohlgefällig, so charmant-lüstern, wie es nur ein Franzose kann, und verstand nicht, wie ich diesen doppelten Vorteil so kampflos aus der Hand geben konnte. Geld sparen und eine hübsche Frau neben sich im Bett, kein Wunder, dass die Deutschen ausstarben (obwohl selbst ewige SPD-Mitglieder davor warnten, Statistiken fehlinterpretierten und an das Doofheits-Gen ihrer Mitmenschen appellierten) und gelegentlich Kriege vom Zaun brachen. Endlich nickte er resigniert. Wir waren also doch nicht William und Kate auf Hochzeitsreise.
Unsere Zimmer lagen nebeneinander im 2. Stock. Wir bestiegen den Aufzug und fuhren hoch, blieben vor Vikas Tür stehen. Ganz in der Nähe, hatte uns der Rezeptionist empfohlen, gebe es ein hübsches Lokal, dort könne man gemütlich zu Abend essen. Ich lud Vika ein, sie akzeptierte sofort, »gegen Sieben am Empfang?«, »gegen Sieben – und Dank für alles.« Keine Ursache.
Ich stellte die Reisetasche unausgepackt neben das Bett (wie alles hier normierter Drei-Sterne-Standard), vergewisserte mich, dass ein Internetanschluss vorhanden war (mein Laptop genoss gerade seinen ersten Auslandstrip), erfrischte mich flüchtig – und sprang federnd aus dem Hotel, zur Stadtmauer hin, fand dort ein schmales Tor auf die Mauer – und blickte aufs Meer.
Das Meer. Es war Flut, die Wellen liebkosten den Strand, ein wenig Nebel am Horizont, von links eine Fähre, die dem Hafen zusteuerte, wahrscheinlich von Jersey kommend oder einer der anderen Kanalinseln. Tief einatmen. Es war zu kalt, barfuß am Strand zu laufen, obwohl es mich reizte. Ich folgte dem Weg der Fähre, die jetzt halb von der Grand Bé verdeckt wurde, einem Felsen, der in einigen hundert Metern vom Ufer aus dem Wasser spitzte und wo sich das Grab des Dichters Chateaubriand, Sohn St. Malos, befand. Bei Ebbe würde man es zu Fuß erreichen.
Alles überwältigte mich. Fast vergaß ich, warum ich hier war, als ich mich daran erinnerte, verschob ich den Besuch in der tristen Vorstadt, wo Regitz in Herrn Osters Firma verkehrte, sofort auf morgen, es war auch zu spät jetzt. Ich verließ die Mauer, auf der man um die Altstadt laufen konnte, übergab mich dem geordneten Chaos der unbekannten Straßen und Gassen, lief einfach drauf los.
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So war ich ziellos durch die Stadt geschlendert, hatte die Vergangenheit nicht gesucht und deshalb auch nicht gefunden, mich in einer Bäckerei mit Kaffee und Sandwich bewirten lassen, stand – als habe mich eine unsichtbare Macht geleitet – auf der Stadtmauer und blickte hinüber auf den spröden Teil St. Malos, wo die Menschen abseits der Geschichte lebten, arbeiteten, liebten, starben. Böiger Wind kam auf, zerzauste mich. Ich stemmte mich dagegen, ging weiter, gelangte auf die Meerseite, auf die Höhe der Grand Bé, das Wasser zog sich langsam zurück, kleinere Felsen schnappten nach Luft. Ich schlüpfe durch die bekannte Maueröffnung und stand wenige Momente später vor meinem Hotel, die wütenden Wasser wie einen Schatz in den Ohren.
Nachdem ich ausgiebig geduscht, meine Sachen ausgepackt und meine Kleidung gewechselt hatte, warf ich den Laptop an und ging online. Eine Mail von Oxana, sie berichtete, Borsig habe sich bei Brüggink vorgestellt und die Chauffeursstelle
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