Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
Bedürfnis, zwängte mich zwischen Vordersitz und Frauenknien hindurch auf den Flur, stand nun ebenfalls vor der Frage, in oder gegen Fahrtrichtung, entschied mich – ganz Gegendenstromschwimmer – für letzteres und begann vorsichtig meinen Fußweg auf dem sanft schaukelnden Boden. Schön, so eine Reise. Frankreich! Riecht man es schon? Baguettes, Rotwein, Froschschenkel? Nein. Oder doch. Innerlich.
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Paris, Ostbahnhof. Wer in die Bretagne will, muss die Stadt durchqueren, um am Westbahnhof seinen Zug zu erreichen. Das bedeutet endlose Gänge, Rolltreppen, Metrofahrt in Ölsardinenstellung, wieder endlose Gänge und Rolltreppen, die Ausdünstungen diverser Kulturen, die den Knoblauch als Krönung ihrer Küchenkunst schätzen – all das, damit du am Westbahnhof feststellst, dein Zug fahre erst in einer Stunde ab. Also in ein Café, lauwarmen Milchkaffee trinken und ein fröhlich vor sich hin blätterndes Croissant bändigen, daran denken, es handele sich bei dieser ganzen Tortur nur um die subtile Rache der Franzosen an den Deutschen, die tägliche Retourkutsche für den verlorenen Krieg 1870/71, die Schweinereien zweier Weltscharmützel. Wenn man auch darunter leidet: Trotzdem irgendwie sympathisch, diese Franzosen.
Die Frau aus dem ICE hatte ich natürlich bald aus den Augen verloren. Verschluckt von der Menge. In der Metro gab es noch immer keine Einzelfahrscheine zu kaufen, nur Carnets, Zehnerblöcke. Ich schaute mich um und entdeckte einen älteren Herrn in einer Ecke, er zwinkerte mir zu, ich zwinkerte zurück. Er zog etwas aus der Manteltasche, sagte, als ich vor ihm stand: »Trois Euro«, ich kramte nach den Münzen und wir besiegelten unseren kleinen Handel. Ein lockerer Nebenerwerb: Man kauft sich ein Carnet, lauert den Reisenden auf, die nur von Ost nach West, von West nach Ost müssen, verkauft ihnen die einzelnen Fahrscheine mit einem zivilen Aufpreis, versteht sich. So bessert der Franzose seine Rente auf, haben beide Seiten etwas davon.
Lauwarmer Milchkaffee, blätternde Croissants: Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Ich sog Paris in mich auf, schaute durch die Glasfront auf die Bewegungen der Vorstadt, hörte um mich herum das nasale, nur in sehr kurzen Sentenzen sinnhafte Französisch – und, naturellement, das »WANN fährt dieser Scheißzug nun wieder ab?« deutscher Wort- und Kofferträger, gedachte des Opernplatzes, wo ich einstmals (lange her) ein wunderbares Menü zu einem wunderbar dreisten Preis genos sen hatte (und die leichtfüßige Kellnerin, wie einem klassischen Ballett entsprungen) – dann bemerkte ich die Frau aus dem Zug, ein paar Tische weiter, über Milchkaffee und Croissant (auch das naturellement), zwischen der obligatorischen Mahlzeit und dem langsam mahlenden Kiefer den »Reiseführer St. Malo«. Sie sah mich nicht oder tat doch so, als sehe sie mich nicht. Ich sog auch sie in mich auf.
Die Zeit verging langsam, hey, das hier ist Paris, also keine Hektik, einfach nur das Atmen nicht vergessen, die schlagerbekannte Pariser Luft, von den Auspüffen uralter blecherner Kastenwagen und schnittiger Peugeots, Citroens und Renaults unablässig produziert, eine Brise Pigalle, Eiffelturm und Louvre, Montmartre und Montparnasse, Moulin Rouge und Pantheon beigemischt – aaaaaaaah.
Jetzt sah sie zu mir herüber, unsere Blicke trafen sich, Wiedererkennen, knappes Nicken und Lächeln. Ich legte Geld auf den Tisch, schnappte meine Tasche und stand auf, sie schaute auf die Uhr und tat es mir nach: Geld, Tasche, Aufstehen. Der TGV wartete bereits auf uns. Im Gegensatz zum ICE würde man niemanden ohne Reservierung antreffen, so dumm ist der Franzose auch wieder nicht, dass er überfüllte Züge in Kauf nimmt und, um sie einigermaßen zu leeren, 25-Euro-Gutscheine für all jene auslobt, die freiwillig auf die Weiterreise verzichten. Reservierungspflicht, und ich habe mich immer gefragt, warum man ausgerechnet in Deutschland auf diese Möglichkeit verzichtet, eine neue bürokratische Maßnahme einzuführen.
Platz in Fahrtrichtung. Die Dame ging an mir vorbei, suchte ihren reservierten Sitz, fand ihn endlich drei Reihen vor mir. Es war schön temperiert im Abteil, auch hier hat der Franzose dem Deutschen einiges voraus. Ich schloss die Augen, streckte mich, atmete durch. Und der Zug setzte sich in Bewegung.
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Rennes! Das Tor zur Bretagne machte seinem Namen alle Ehre und nötigte mich zu rennen. Eine steile Treppe hoch, eine steile Treppe hinab, unten wartete der
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