Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
auf Anhieb erhalten, er sei jetzt ein wenig geknickt, »aber ich richte ihn schon wieder auf, also seelisch-moralisch, ha ha«. Ich schrieb zurück, Borsig solle Anja nach dem Namen des Hotels fragen, in dem Regitz ab gestiegen war, das hatte ich nämlich – shame on me – in all der Aufregung der letzten Tage vollständig vergessen.
Bei Facebook blätterte ich mich durch 137 Informationen meiner »Freunde«, die mich begeistert davon unterrichteten, es sei jetzt möglich, meine »Topstalker« zu ermitteln. Noch während ich dies staunend las und immer weniger über das Stalkverhalten meiner virtuellen Bekanntschaften wissen wollte, trafen weitere Nachrichten ein, die mich dringend davor warnten, auf einen der den Topstalker-Botschaften angefügten Links zu klicken. Es handele sich dabei um einen »Wurm«, der sich auf meinem Rechner einnisten würde, um von dort aus munter weitere Botschaften über die Topstalker an die Adressen meiner »Freunde« zu versenden, die dann ihrerseits... Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fand das sehr lustig und musste angedeutet lachen.
Eigentlich war das ja alles nicht zum Lachen. Sondern stand als ein läppisches Teilchen für das große Ganze unseres sozialen Netzwerkens, wo sich Dummdreistigkeit unaufhörlich ausbreitete, sobald ein Gehirn es anklickte und für wahrhaftig, nachdenkenswert, erhaben und gut befand. Man denke doch nur an die SPD. Hatte nicht jemand – jemand? – den Wurm des Sozialstalkings in die altehrwürdigen Module dieser morschen Partei (oder sollte man die Adjektive austauschen?) kriechen lassen? »Wow, jetzt kannst du arme Leute triezen und Arbeitslosen bis ins Schlafzimmer nachstalken! Klicke einfach auf den Link ‚Agenda 2010’ und installiere Hartz IV in deinem Parteiprogramm!« Gesagt, getan. Schon verschickte der wacklige Rechner SPD die absurdesten Meldungen über den Sozialstaat und hörte auch damit nicht auf, als längst viele »Freunde der Sozialdemokratie« ihre Freundschaft aufgekündigt und SPD »auf Igno« gesetzt hatten, wie das in der Fachsprache hieß.
Schön, dachte ich mir, so ist das. Aber widmen wir uns nun wieder den erfreulichen Dingen des Lebens, die gerade auf den Namen Vika hörten und sich im Nebenzimmer wohl just für das kostenlose Abendessen rüsteten. Es war über all dem nutzlosen Philosophieren Viertel vor sieben geworden, längst dunkel draußen, ich prüfte noch einmal mein Aussehen im Badezimmerspiegel, fand es annehmbar, fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter ins Foyer, nickte dem Rezeptionisten zu, der, mit Telefonieren beschäftigt, kurz zurück nickte, setzte mich in einen Sessel und wartete und dachte wieder nach, diesmal über Vika und das Abendessen, einen kleinen Flirt oder keinen – nein, mach keinen erotischen Stress, Moritz, spar dir das, genieße den Abend, lass den anstrengenden Tag ausklingen... Oh mein Gott! Hätte ich damals gewusst, was mich erwartete, ich wäre hochgerannt, hätte mein Zeug gepackt, um schleunigst von hier zu verschwinden. Vor mir lag das größte Abenteuer meines bisherigen Lebens und wenn ich jetzt, ein paar Wochen später, daran zurückdenke, verschlägt es mir die Sprache. Also halte ich am besten die Klappe.
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»Also halte ich am besten die Klappe.« – Oh weh! Wenn ein Ich-Erzähler das Maul hält, hat der Autor ein Problem. Er hat es, nebenbei, sowieso, denn man glaube doch nicht, der Autor sei tatsächlich der Herr über sein Personal! Einer wie Moritz Klein macht was er will, der kümmert sich nicht um die ehernen Gesetze des Genres, dem sind dramaturgische Kurven piepegal. Jetzt schweigt er also eine Zeitlang und zwingt mich, den Autor, aus meiner Perspektive zu berichten. Gut, unter uns: Das mögen die Leserinnen und Leser eh lieber. Lass deine Figuren als »Er« und »Sie« durch die Geschichte hampeln, switche wie mit einer Fernbedienung hin und her, zeig als Autor, was für ein flexibles Kerlchen du doch bist, dem kein narrativer Kniff fremd ist – und, hey, du darfst sogar Fremdwörter verwenden! Narrativ? Das hätte dieser Prolet Moritz niemals in den Mund genommen! Also denn mal los und so erzählt, wie mans auf der Krimischule lernt.
Und immer schön mit Zwischenüberschriften und einem »roten Faden«. Hm, kurzes Nachdenken. Wo befindet sich unser verstummter Held gerade? Genau. Im Foyer dieses bretonischen Hotels. Er sitzt in einem Sesselchen und wartet, Frau Vika wird mit geziemender Verspätung erscheinen, nicht zu wenig, nicht zu viel, gerade recht.
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