Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
in den Oberarm, Regitz verdreht sofort die Augen, klappt zusammen, die beiden Helfershelfer fangen ihm auf, lassen ihn unsanft zu Boden gleiten. Dann ich. Ich spüre den Schmerz nicht einmal, ich bin einfach weg. Dann, anzunehmen, Vika. Jetzt fahren wir über den Ärmelkanal, das heißt: Ob wir ihn wirklich überqueren, steht noch in den Sternen. Vielleicht nur bis zur Hälfte und dann werden wir Futter für die Fische.
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Allmählich akzeptierten meine Augen den Job, der ihnen von der Natur zugewiesen worden war: die ganze Erbärmlichkeit und Beschissenheit der Welt, ach was!, des Universums in ihren optisch erfassbaren Ausmaßen zu präsentieren. Sie stellten die Umrisse einer dunklen Kajüte dar, ein Bullauge, durch das ein winziges Stück Mond schien, ein schmales Bett, auf dem Regitz rücklings lag und schnarchte, das linke Profil der schönen Vika, die ihrerseits mein rechtes, sehr viel weniger schönes, ohne große Begeisterung betrachtete. Es schien sich zu einem grenzübergreifenden Sport entwickelt zu haben, den guten Moritz Klein in regelmäßigen Abständen zu betäuben. Was ich ja, ganz begeisterter Europäer, hinnehme, nur gerade jetzt ging es mir ziemlich auf den – ok, reden wir nicht mehr von dem. Wenigstens die Schmerzen da unten ließen langsam nach.
Höflichkeit und Galanterie konnten keine hervorstechenden Wesensmerkmale unserer Entführer sein, sonst hätten sie Vika das wohl einigermaßen bequeme Bett überlassen. So lag sie wie mein weiblicher Zwilling in grotesker Verrenkung auf dem Boden, die Hände auf den Rücken gebunden, von diesen ein Draht zu den ebenfalls gefesselten Füßen führend, der diese, weil zu kurz, Richtung Hinterteil zerrte, was den Knien nicht gut bekam, wie mir plötzlich spürbar klar wurde. Den Kopf hatte Vika gegen die Wand gelehnt; auch nichts, was man in der Morgengymnastik des Bayrischen Rundfunks als Empfehlung mit auf den Weg kriegt. So lag ein Häuflein Elend neben einem anderen Häuflein Elend und es begann mit einer nüchternen Selbstanklage.
»Ich hab mich benommen wie eine blutige Anfängerin.« Sie puhte ein paar Mal Luft aus den Lungen. »Kann ich nicht beurteilen«, sagte ich, »für eine arglose Touristin warst du doch ziemlich cool.« Sie lachte gezwungenermaßen und sehr kurz. »Aber nicht für eine Privatdetektivin, die diesen Job seit zwölf Jahren macht.« »Untreue Ehemänner in flagranti ertappen?« »Auch«, antwortete sie, »von den untreuen Ehefrauen mal ganz abgesehen. Aber auch verzwicktere Sachen.« »Hm«, machte ich. Und sie: »Hm, hm.« Wir hörten eine Weile den Wellen zu, bösen Wellen einer stürmischen See. Unter dem Geräusch vernahmen wir ein anderes, das eines tuckernden Motors. Würde der abgestellt, ginge es wohl ans Eingemachte. Nacht, Ärmelkanal, gefesselt. Das waren trübe Aussichten und für einen Moment dachte ich an Georg Weber. Wer hier mitten auf der See abgeladen wurde, den konnte auch der beste Detektiv, die beste Detektivin nicht mehr finden.
»Oxana?«, fragte ich aufs Geratewohl. »Jo«, bestätigte Vika. »Wir – sind Freundinnen.« Die kleine Verzögerung registrierte ich zähneknirschend. So langsam entwickelte sich die Kasachin zur erotischen Konkurrenz. »Aha. Und sie hat dich beauftragt, mich im Auge zu behalten?« »- was ja auch dringend nötig war«, musste Vika fieserweise ergänzen. Und hatte natürlich Recht. Auch ich, obwohl kein Privatdetektiv, lag nicht als ein mit Ruhm bekleckerter Held auf dem Kajütboden und wartete darauf, mich vom ordnungsgemäßen Zustand der Fischpopulation im Ärmelkanal zu überzeugen. Gab es hier überhaupt Haie? Solche Biester, die mit großem Maul auf einen zugeschwommen kommen und um die Mitte packen, dass man nur noch »urgs« sagen kann? Keine Ahnung. Würden wir sehen.
»Aber trotzdem nett, dich kennengelernt zu haben.« Kaum hatte ich das gesagt, dachte ich an all die Menschen, die ich nicht mehr wiedersehen würde. Hermine, natürlich. Sogar Jonas, den missratenen Sprössling, würde ich, auf meiner Wolke sitzend und Manna kauend, irgendwie vermissen. Oder, nein, doch nicht. Oxana, sogar Marxer, Irmi, Borsig... Sonja Weber, auch die. »Noch leben wir.« Eine merkwürdige Feststellung aus Vikas Mund. Stimmte ja. Na und? Noch lebten wir. Lagen nebeneinander, hörten den Wellen, dem Motor zu, dem Schnarchen von Regitz. Nein, das nicht mehr, denn das Schnarchen hatte aufgehört. »Was issn los?«, meldete sich die Stimme des Alten auch gleich und Vika antwortete
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