Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
dort Richtung Heimat. Während sie ihr Freisein genoss, dachte sie daran, wo man es am besten wieder aufgeben könnte. Ein neuer Job musste her, dringend, in der Discounterbranche wäre sie ab sofort verbrannt, denn so etwas wie die Nummer mit den Mangos und den Obstschalen sprach sich herum. Aber egal. Nach Hause, erst einmal durchatmen, dringend jemanden anrufen, dem man Freud und Leid klagen konnte. Oxana? Irmi? Die Mädels aus der Kneipe? Moritz war ja nicht da, meldete sich auch nicht. Sie schaltete sofort den Rechner ein, keine Nachricht von ihm. Telefonieren.
Bei Marxer meldete sich niemand, auch Irmis Telefon ließ endlos läuten. Die Mädels. Endlich hob jemand ab, Monika. »Klar, Schatzi, komm vorbei, wir sitzen grad über den Abrechnungen, aber dauert nicht mehr lang.« Hermine stand auf, zog sich wieder an. Freiheit!, flüsterte sie laut. Arbeitslosigkeit!, echote es brüllend zurück. Von irgendwo her lachte es, hallte, wurde zum Tinnitusgeräusch. Arbeitslosigkeit! Prekariat! Scheiß drauf, sagte Hermine laut und machte sich auf den Weg zu den Sisters.
»So, Bruder BO, was bistn du für einer?« Jonas spielte seine Rolle gut. Tat so, als kenne er den Typen nicht. »Ja«, sagte Katharina, »erzähl mal paar Schwänke aus deinem Leben, Alter! Warst doch bestimmt schon in vielen Häusern Chauffeur, da erlebt man was. Hast schon mal die Chefin genagelt? Bist wirklich impotent? Oder doch schwul? Oder stehst nur auf Faltentanten? Erzähl halt!« BO ließ einen resignierten Schwall Luft aus den Lungen. Und erzählte halt.
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Das Leben der anderen, das eigene
Ein Handy klingelte. Oxanas Handy. Eine russische Volksweise. Das Geräusch bereicherte die Orchestrierung aus hervorgepressten Lauten der Lust, dem Knarren der Bettstatt, den Schlägen unkontrolliert zuckender Glieder gegen Echtholz und Marxers Keuchen. Sie trieben es. Endlich. Man brauchte nicht viel Phantasie, sich passende Bilder zu imaginieren, die einzelnen Stationen des Aktes mitzufühlen. Marxer konnte das. Es war sogar das, was er am Besten konnte. Mitfühlen. Das Handy gab es auf. Wo mochte es liegen? Auf dem Nachttisch? Unter hastig auf den Boden geworfener Wäsche? Ja, genau, es hatte ein wenig dumpf geklungen.
Die Geräusche schrillten in seinem Gehirn. Glücksspielautomaten hatte Borsig nie gemocht, zu laut, zu marktschreierisch, zu bunt. Und man konnte nur verlieren. Wie Katharina jetzt. Sie lachte dabei. »Hey, jeder Euro, den ich hier verlier, den verliert mein Alter! Is doch geil, was?« Was daran geil sein sollte, ging über Borsigs Horizont. Nein, doch, ja klar: Das war etwas Tiefenpsychologisches, die Rache einer Tochter an ihrem Vater. Sie erriet seine Gedanken. »Jo, der Alte soll bluten. Weißt du, was er mit meiner Mutter gemacht hat? Abgeschoben, als sie über 30 war! Der alte Sack! Und seitdem mit Jüngeren in die Federn. Mich hat er quasi der Mama abgekauft, ich bin der fleischgewordene Beweis seiner Manneskraft. Nur gut, dass ich ihn kaum sehe. Immer unterwegs, die Sau.«
»Aha«, sagte Borsig vorsichtig. »Ich hab ja bisher noch nie mit ihm zu tun gehabt. Der Johann hat mich eingestellt. Aber wenn er unterwegs ist, wieso fahre ich ihn dann nicht?« Katharina jauchzte. Wieder verloren. »Weil er das Flugzeug genommen hat. Auf die Kanalinseln, glaub ich, Jersey oder so. Dahin, wo die Briefkastenfirmen und die Banken sind. Wir leben nämlich von dubiosen Geschäften, falls du das noch nicht gemerkt hast.« Interessant, dachte Borsig und sah zum Nachbarautomaten, an dem sich Jonas und Laura mit Katharinas Geld vergnügten.
Nein, auf den Höhepunkt würde er verzichten. Sollten sie sich ungestört vergnügen. Er richtete sich auf, rieb sich das Ohr, schlich auf Socken über den Flur, in sein Arbeitszimmer, machte leise die Tür hinter sich zu und »puh!«
»Puh!« Die Zwillinge sahen sich an, nickten sich dann zu. »Na, Schatzi, ist doch kein Ding. Du arbeitest ab sofort bei uns im Service, mit den Alten hier kommst doch prima klar. Is was anderes als bei Aldi das Kassenmäuschen spielen. Zieh dir was Flottes an, das merkst dann an den Trinkgeldern.« Daran hatte Hermine auch schon gedacht.
Daran hatte Irmi gar nicht gedacht. Den Rainer hätte sie nach diesem komischen Konsul fragen müssen, aber was heißt schon komisch. Alles war doch komisch. Leute, die Anfang Januar angeblich auf dem Feld arbeiteten, moderne Einbauküchen und Espressomaschinen, die gegen Kartoffeln getauscht wurden, ein angeblicher Graf Strontium
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