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Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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Sarrazin aus den Wort gewordenen Wirrungen seines Hirnimitats liest. Überhaupt, der hätte jetzt hier sein müssen. Unter diesen Menschen, die uns kurze Blicke und ebensolche Lächeln zukommen ließen, ein bisschen müde alles. Jemand, eine Frau in viel zu dünner Kleidung, reichte uns Tonschalen mit Brei und Löffeln, Becher mit heißem Tee standen vor uns, wir hockten im Schneidersitz an den Feuern, unsere Köpfe glühten, unsere Hinterteile froren.
    Mohamad Ndaye wies mit der Rechten ins Ungefähre der Nacht, unter der sich die Wasser bäumten. »Da vorne liegt die Normandie. Das Schiff hier ist gut, viel besser als unser alter Kahn. Wir kriegen alle 77 heil an Land.« Woher sie kämen? Er schüttelte den Kopf. »Jersey. Dort haben sie uns ein paar Lebensmittel gegeben und zurückgeschickt nach Frankreich. Von wo aus wir nach Jersey gefahren waren, nachdem sie uns aus Frankreich nach Jersey geschickt hatten. Wir beklagen uns gar nicht. Alles ziviler als die Reise von Tunesien nach Lampedusa, wo 40 von uns über Bord gegangen sind oder an der Ruhr verreckt. Hier im Ärmelkanal haben wir bisher erst sechs Leute verloren. Westeuropa ist eben sehr viel kultivier ter.« War das Ironie? Selbst Regitz senkte den Kopf fast bis in seine Breischüssel und murmelte »Scheiße«.
    Die Yacht lag bedenklich tief. »Nur gut, dass die Jungs mit dem Beiboot abgehauen sind«, sagte Ndaye, »die wollten auf uns schießen, dabei haben wir sie nur nach Trinkwasser gefragt.« Ich bemerkte, dass Vika aufgestanden und unter Deck gegangen war. Auch mich plagte ein Bedürfnis und so folgte ich ihr. Unten standen sich die Menschen auf den Füßen, eine lange Reihe Wartender vor der einzigen Toilette. »Hallo«, sagte Vika, »da haben wir noch mal Glück gehabt.«
    Glück. Vielleicht waren wir gerade zu modernen Ahasvers mit eingeschränktem Bewegungsradius geworden, Menschen, die man für den Rest ihres Lebens unerwünscht zwischen Frankreich und den Kanalinseln pendeln ließ, Heimatlose. Die Ganoven hatten uns die Ausweise, hatten uns alle Besitztümer abgenommen, wir würden ohne große Aussicht auf Erfolg danach suchen müssen. Vika erriet meine Gedanken. »Uns werden sie so ins Land lassen. Wir sind weiß und reden Deutsch.« Ich nickte. Genau. Weiß, deutsch, feste Wohnsitze, eine plausible Story würde uns auch noch einfallen. Stellte mir die Grenzer vor, sah einen, wie er genüsslich seinen Tee trank, seine Banane aß, darauf bedacht, sein schönes billiges Hemd nicht zu bekleckern, wie er ein französisches »njet« züngelte, ignorierte, dass diese Menschen für alle die anderen standen, die ihm seinen Tee gepflückt, seine Bananen geerntet, sein Schnäppchenhemd genäht hatten, ohne davon leben zu können, damit er, der Grenzer, hier von seinem Gehalt leben konnte, das er sich damit verdiente, die Leute, die ihm das ermöglichten, ins Elend zurückzuschicken, damit sie weiter... Jetzt würde ich nicht nur zum Pissen aufs Klo müssen, sondern auch noch zum Kotzen.

205
    Die mächtigen Erhebungen des Mont St. Michel als Silhouette in der beginnenden Morgendämmerung. Wir lehnten uns über die Reling, sahen das normannische Wahrzeichen langsam im Schlund des Horizonts verschwinden. »Hier ist nicht gut«, hatte Mohamad Ndaye befunden, »wir suchen uns eine verschwiegene Bucht und landen dort an.« Weiter? Es zuckte in seinem Gesicht. »Wir denken nur an Gegenwart. Es gibt kein Weiter, wenn du auf der Flucht bist.«
    Vielleicht auch kein Zurück, sinnierte ich. Dennoch wollten wir zurück nach St. Malo, selbst Regitz. Er habe noch seine Sachen im Hotel. Die Rechnung sei noch offen, überhaupt: offene Rechnungen. »Was für ein Typ ist eigentlich dieser Firmenbesitzer, dieser französische Oster, der Chef vom Ganzen?« Das machte Regitz verlegen, bemerkte sogar ich. »Och, so ein alter Franzose halt. Lebt wohl in Paris, ist vor zwei Tagen abgereist.« »Und wer ist seitdem dein Lehrer?« Vika hatte den Alten ins Kreuzverhör genommen, Ndaye verfolgte die Befragung amüsiert. Es war ruhig geworden an Bord der Yacht, die man auf den Namen ETOILE getauft hatte, STERN. Die Menschen schliefen unter Deck oder unter freiem Himmel, gegen Kälte jeglicher Art immun geworden. Einige brabbelten im Schlaf, träumten unruhig. Kinder husteten, wälzten sich in zerrissenen Schlafsäcken. Das Meer bewegte sich sacht, der Himmel eine Flaniermeile für in vornehmem Mittelgrau müßiggehende Wolken. Der Mann am Ruder orientierte sich an der Küste, von

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