Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
wie konnte er mir helfen? Darüber war am Telefon nicht gesprochen worden. Es war wie ein Griff nach dem letzten Strohhalm, ein halbwegs interessiertes Wesen in diesem Meer des Desinteresses, und ich wusste: Würde ich jetzt, hier an der verführerischen Theke der Bäckerei Siebenlist, einen xbeliebigen Menschen ansprechen, ihm den ganzen Kasus der bevorstehenden Katastrophe aufdröseln, ich erntete bestenfalls ein höfliches Schulterzucken und die Entschuldigung, man habe jetzt keine Zeit, weil das Puddingstückchen ein Recht darauf habe, gegessen zu werden.
»Hallo«, rief es plötzlich und eine Hand hinter der Theke winkte mir zu. Sie gehörte einem sehr großen, ziemlich dicken, kaum 35jährigen Mann mit schwarzglänzendem Haarzopf, der unter der Dienstmütze des Unternehmens, einem flotten rosa Käppi, herauswuchs. Das war Günther Rath? Er winkte mir weiter zu, hatte gerade keine Kundschaft und ich trat heran, worauf mich zwei Reihen perlweißer Zähne beflissen angrinsten. »Günther Rath, jeweils mit th. Da staunen Sie, was?«
Ich staunte. »In zehn Minuten hab ich Feierabend, dann können wir nebenan was zischen und quatschen. Kleinen Espresso bis dahin? Oder Milchkaffee? Sandwich oder lieber ein Nougatstückchen? Die Erdbeertörtchen sind ebenfalls zu empfehlen, wir bekommen die Erdbeeren jeden Morgen frisch aus Neuseeland oder Chile, weiß der Kuckuck woher.« Ich entschied mich für Milchkaffee und Käsesandwich, »geht aufs Haus«, zeigte sich Rath generös und schob sein Käppi keck in die Schräge. Ich nahm mein Zeug und trug es zu einem der kleinen Stehtischchen. Wenigstens eine kostenlose Zwischenmahlzeit.
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»Ich bin wie ein Hörsaal«, sagte Günther Rath mit grinsender Beiläufigkeit und überblickte ebenso die Häupter der Gäste in der kleinen Kaffeebar neben der Verkaufstheke der Bäckerei Siebenlist. »Ich setz mich einfach an einen Ort wie diesen und lasse mich mit Wörtern volllaufen. Sachen höre ich da, das glauben Sie gar nicht."
Ein seltsamer Mensch. Stand hinter einer Brot- und Kuchentheke, »seit drei Jahren jetzt, von irgendetwas muss der Mensch ja leben und zwar nicht nur vom Essen des Brotes allein, auch vom Verkauf desselben«, war stets nett und ein auf seine Art gutaussehender Bursche, »aber ohne Abitur, das gestehe ich gleich; zu blöd zum geordneten Zwecklernen, eher so der chaotische Lauschertyp halt, die Abfalltonne für unnützes Wissen.«
Und was ihm dies bringe? Er musste nicht lange überlegen. »Im Prinzip gar nichts. Aber sehen Sie, ich vergesse selten etwas von dem, was ich gehört habe. Das liegt alles da« – er zeigte sich selbst den Vogel – »und wartet auf Verknüpfungen. Disparates Wissen, wie die Akademiker sagen würden, so wie im Traum, verstehen Sie? Dort wird ja auch aus all unserem Bewusstseinsschrott Nacht für Nacht eine zusammenhängende Geschichte gebastelt. Obskur und bizarr, aber nicht zufällig. Nein, das glaube ich nicht. Es sind gewisse Ähnlichkeiten, die diese Verbindungen herstellen, irrwitzige Assoziationen jenseits der Ratio. Wie in der Sprache. Die Wörter »Scheinwerfer« und »Schweinwerfer« etwa. Sind sich phonetisch ziemlich nahe, aber sonst? Im Traum wäre das vielleicht so: Ich fahre des Nachts mit eingeschalteten Scheinwerfern auf einer Landstraße und plötzlich steht ein Mann auf der Fahrbahn und wirft eine trächtige Jungsau gegen die Leitplanken. Die Sau platzt – und ein weiterer Mann taucht auf, greift in die Gedärme des Tieres, zieht ein Bündel Hunderter heraus und wirft die Scheine dem anderen Mann entgegen. Hier schließt sich der Kreis Scheinwerfer – Schweinwerfer – Scheinwerfer.«
Er beugte sich vor, riss die Augen auf und richtete sie – wie Scheinwerfer? – auf mich. »Halten Sie mich jetzt für verrückt?«
Das fragte er genau den Richtigen. Ich stellte mir einen Traum vor, in dem alles an seinem rechten Platz stand. Ein hübsch aufgeräumtes Zimmer. Und dann komme ich in den Raum, schaue mich um und verrücke etwas, den Couchtisch beispielsweise. Was ist nun verrückt? Der Couchtisch oder das Unverrückte in Relation zu diesem Couchtisch? »Hübsches Beispiel«, lobte Rath und beauftragte das vorbeihuschende Serviermädchen, salopp mit »Claudimausi« angesprochen, uns bitte die nächsten beiden Biere herbeizuschaffen. »Genauso arbeite ich. Etwas hören, in die Tonne des Gedächtnisses stopfen, etwas anderes hören und abwarten, ob dieses Etwas eine merkwürdige Verbindung mit etwas anderem in
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