Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
brennen stimmungsvoll zu jeder Jahreszeit, kurz: altdeutscher Kitsch. Sehr harmlos und auf Dauer langweilig, musste gesteigert werden, wenn schon Dickens, dann dick Kinderarbeit, denn wenn die Alten das Brot nicht mehr beibringen können, müssen eben die Kinder ran, was ist daran unmoralisch?
»Unmoralisch«, flüsterte Hermine und die hallende Halle flüsterte es mit hohlem Timbre zurück, aber Dr. Habicht winkte ab, »hören wir doch auf von Moral und Unmoral zu reden, das kotzt mich einfach an.« Ich musste ihm Recht geben, jedenfalls in Gedanken. Sonja Webers Augen glänzten und für einen Moment dachte ich an Morgentau, dann aber doch daran, wie es winters auf dem Asphalt glitzerte und man vorsichtig laufen musste, um sich nicht aufs Kreuz zu legen. Sie konnte nicht mehr sprechen und Habicht ergriff die Chance, beugte sich vor, sah an mir vorbei zu Hermine hin. »Das mit der Moral ist immer ein Todschlagargument, gnädige Frau, das plappert doch ein jeder daher, moralisch, moralisch, moralisch, haben Sie die Talkshows nach der Bankenkrise gesehen, ja? Wie die Politikerlein da so rat- und hilflos rumsaßen und sich ihren Applaus dennoch abholen wollten und also haben sie von Moral geredet und dieses Publikumsvieh hat geklatscht, weil Moral ja etwas per se Gutes ist, verstehen Sie? Nein, ich würde am liebsten jedem, der mir mit Moral kommt, voll eins in die Fresse hauen.«
Hermine seufzte. »Aber is doch entwürdigend, oder? Ich meine – Sie posieren da für die reichen Leute und die armen Kinder erst...« Habicht winkte ab. »Auch so etwas, Gnädigste. Die reichen Leute! Ja, meinen Sie wirklich, nur reiche Leute wären unmoralisch? Nee! Aber die armen Leute können sich diese Form von Unmoral einfach nicht leisten! Dafür haben sie andere, ist ja auch ok so. Und überhaupt Unmoral! Sehen Sie die andere Seite! Man hat Arbeit und sein Auskommen in Großmuschelbach! Und Sie werden das nicht ändern können! Ha, im Gegenteil! Wissen Sie was?«
Er schrie jetzt beinahe, das alte Mütterchen vorne in der ersten Reihe drehte uns ihren Kopf zu und wünschte uns auf direktem Wege in die Hölle. »Der Kick«, flüsterte ich, »dadurch, dass wir Sie in Gefahr bringen, erhöhen wir das wohlige Kribbeln bei Ihren Kunden, nicht wahr? Sie lassen sich das gewiss gut bezahlen.« Dr. Habicht lachte dröhnend. »Genau, Sie sind ein schlauer Kerl, ich wusste es gleich. Hab natürlich mit einigen Herrschaften telefoniert und ihnen die Situation erklärt. Erpressung und so, stimmt doch? Bitte schön. Anfangs waren sie beunruhigt, aber dann richtig geil drauf! Erpressung! Das ist ein weiteres Plus in unseren Inszenierungen, das lassen wir uns bezahlen. Kön nen wir endlich zum Geschäftlichen kommen? Behalten Sie ruhig Ihren USB-Stick, was soll das, Sie haben doch bestimmt jede Menge Kopien. In der Tasche ist ein Umschlag mit 10.000 Euro, das reicht fürs erste, wir überweisen Ihnen nach jeder Veranstaltung 5% der Einkünfte und damit können beide Seiten prima leben. Geht in Ordnung so, oder?«
Nickte Hermine? Sie nickte. Wir entkamen diesem Spiel einfach nicht, das wusste sie. Wir waren unmoralische Moralisten, was wir auch taten war falsch und richtig. Wir standen gerade mitten im Leben.
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Bevor die Tasche ihre Besitzer wechselte, fragte ich Habicht, welche Rolle denn Lydia Gebhardt und die Wirtsschwestern in dieser Farce spielten. Die sei nicht groß, wiegelte der Arzt ab. »Frau Gebhardt beerbt ihren Bruder, Helga und Monika sind Teilhaberinnen, Lothar lebte wohl auf ziemlich großem Fuß und brauchte frisches Geld. Was er dann mit frischem Fleisch verband oder umgekehrt.« Der Doktor berichtete dies mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck, als habe man ihn beim Abschreiben seiner Doktorarbeit erwischt. Mehr war nicht herauszubekommen und ich glaubte ihm sogar. Sonja Weber schwieg.
Sie verschwanden, ohne sich zu verabschieden. Wir blieben noch sitzen, so wie man es in Agentenfilmen tut. Auf der Empore rumpelte es und tatsächlich hieben unmusikalische Bestienfinger angeekelt Bach in die Orgel, bis alle Register vor Schmerzen schrien. Das war der passende Soundtrack, fand ich, schräge Kirmesmusik am Ende einer verunglückten Geschichte. Ich wusste, dass mich das Schicksal Georg Webers nichts mehr anging, meine Klientin hatte mir gekündigt, ohne eine Wort, aber jedes Wort wäre eines zuviel gewesen. Ein wenig Geld war in die Kasse gekommen, schön so, und weil es so schön war, saßen wir jetzt nebeneinander, Hermine
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