Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
hatte ich das Haus erreicht, in dessen Penthouse Herr Honig wohnte. Ohne es wirklich zu wollen, sei betont, meine Schritte hatten mich gelenkt, hier war das Unbewusste zu seinem Recht gekommen, Sigmund Freud lässt grüßen, aber ich grüße mir fremde Bartträger aus Prinzip nicht zurück. Sah stattdessen hoch, wieder waren die Rollläden dicht, klingeln würde ich nicht, denn selbst ein so triebhaftes und von seinem Unbewussten gesteuertes Wesen wie ich lernt dazu und wiederholt einen Fehler nicht. Jedenfalls nicht heute, jedenfalls nicht vor diesem Haus.
Aber vielleicht wäre es ein Fehler, bei Hausmeister Raffke zu klingeln, mir Einlass zu verschaffen, ihn sein Leben reportieren zu lassen, um mich im geeigneten Moment des sicherlich vorhandenen Zweitschlüssels zu Honigs Wohnung zu bemächtigen und... Ja, zweifellos, das wäre ein schwerer Fehler, aber ich beging ihn ja zum ersten Mal, keine Wiederholung also. Ich klingelte bei Raffke.
Der Mann war hocherfreut, mich zu sehen. „Ah!“ rief er aus und in sein sonniges Gesichtchen schauend bedauerte ich es, keine Flasche Wein oder Schnaps als Gastgeschenk parat zu haben. Was Raffke aber piepegal war. Er lauschte gerade dem in voller Lautstärke dröhnenden „Forellenquintett“, auf dem Tisch im Wohnzimmer stand eine angebrochene Flasche Moselweißwein (es gibt Schlimmeres, zum Beispiel die verheerende Pestepidemie von Magdeburg im Jahre 1483), daneben ein Glas, dem sofort ein weiteres beigestellt und gefüllt wurde. „Mein Freund Vincent Wiesenhövel hat mir ... nein, warten Sie, es war mein Freund Gernot Haber, aber mit Vincent war ich damals...“ Ich seufzte und setzte mich.
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Zwei Stunden lang entführte mich Hausmeister Raffke in die flirrende Welt seines Lebens. Mit angehaltenem Atem und offenem Mund lauschte ich den Weisheiten eines gewissen Ferdinand Marbach – „das war mein Stubennachbar beim Bund“ -, dessen „Es kommt, wie es kommt und wenn’s nicht kommt, dann kommt was anderes, oder auch nicht, aber genauso kommt’s und damit Prosit, Kamerad!“ in der Tradition einer Montesquieu, eines Hegel, eines Helmut Kohl würdig bestand.
Zum Glück war Raffke bei archäologischen Grabungen in seiner Speisekammer eine Flasche Riesling untergekommen, ein wenig schon ins Essigmäßige gekippt, mit genügend Leidensfähigkeit aber immer noch trinkbar. Der wackere Hausmeister hatte gerade angesetzt, mich mit Wilfried Gerbuschek bekannt zu machen – „nee, sorry, das war ja der Ex von Ida Gerbuschek, also den hätten Sie sehen müssen, LKW-Fahrer und immer zwischen Rüdesheim und Nizza unterwegs – kennen Sie Nizza? Also ich kenne nur Rüdesheim, aber das reicht mir völlig“ -, als er auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen begann. „Meine Blase! Moooo-ment!“ Er tigerte toilettenwärts, ich wartete auf das erleichterte „Ah!“, das den Beginn der hydrotermischen Entladung markierte und schlich auf den Flur, wo ich beim Betreten der Wohnung ein Schlüsselschränkchen registriert hatte. Sehr vorsichtig öffnete ich es nun und fand tatsächlich den Schlüssel zum Honigschen Refugium auf Anhieb. Einstecken und auf Zehenspitzen zurückschleichen, gerade noch rechtzeitig, die Toilettenspülung überantwortete die Verwandlung des Riesling der Kanalisation, sollte die sich damit herumärgern.
„Wieder da“, verkündete Raffke und gähnte. In mir keimte Hoffnung auf ein baldiges Ende der narrativen Tortur auf, die aber gnadenlos zertreten wurde, als der Hausmeister auf Wilfried Gerbuschek zurückkam, also eigentlich Matthias Eugen Schlaffkötter, „Schulkamerad von mir, mit dem hab ich immer Schwanzvergleich gemacht, war ein knapper Wettkampf damals, aber ich hab gewonnen.“ Ich beglückwünschte Raffke dazu und schenkte ihm den Rest des Rieslings ins Glas. Inzwischen pustete mir Beethovens Fünfte in die Ohren, Raffkes Stimme wurde lauter, um die Rache des Tauben aus Bonn an der hörenden Menschheit zu übertönen. „Dieser Schlaffkötter war dran schuld, dass ich Hilde kennengelernt hab, weil die Hilde hatte ein Auge auf den Matti geworfen, aber der war irgendwie schwul geworden, wenn du verstehst, was ich meine.“ Es war kaum misszuverstehen. Ich nickte und erhob mich. „So, jetzt muss ich aber auch mal pinkeln.“ Raffke gähnte und genehmigte es.
Ich ließ mein Wasser sehr langsam, betrachtete mir in aller Ruhe die Arbeit des Raffkeschen Innenarchitekten im Sanitärbereich, wusch mir die Hände sehr sorgfältig mit Seife –
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