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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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Und es gab „das Volk“, das sich von Schauspielerinnen die Zunge in den Rachen stecken ließ, „Lafontaine lebt im Holozän“ reimte, Currywürste fraß und durch die Städte hastete, um 100 Gramm Leberwurstschnäppchen zu machen. Und es gab mich, der ich all das wusste, der ich verzweifelte, der ich den Mut verlor, der ich nach Hause ging, den Fernseher einschaltete und sofort wieder aus, weil gerade die unvermeidliche Talkshow zum Thema „Pro und Contra Patchworkfamilie“ lief, während...
    Nein, komm wieder runter, Moritz. Ich rief bei Oxana an, die meldete sich sehr aufgeräumt, machte „oh“ und „ach“ und „scheiße“, als ich ihr von meinem Versuch erzählte, den ganzen Kasus öffentlich zu machen. „Hast gesehen? Auf Island tanzt man jetzt auch und auf Jersey hört man gar nicht mehr auf, ich hab grad wieder mit Vika telefoniert, die war ja dabei und hat mitgemacht. Interessante Sache." Ich streckte mich auf meinem Lager und gähnte. „Erzähl“, sagte ich. Und Oxana begann zu erzählen.
     
     
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    Tanzen kann man nur, wenn man gute Füße hat. Vika besaß sie spürbar nicht. Wohl hatte sie sich in eine Art milder Trance bewegt, nicht genug, um über heiße Kohlen zu gehen, wie man das in Dokumentarfilmen manchmal sah, wenn die Bewegungen des Körpers das Schmerzzentrum im Gehirn ausschalteten. Aber ein klein wenig Watte steckte schon da oben drin und machte den Schmerz erträglich. So schien es auch den anderen zu ergehen, die mit Vika durch die Straßen von St. Helier tanzten und vielleicht lag das ganze Geheimnis darin, dass man tanzen musste, sich bewegen, um die Kälte nicht zu spüren, gegen die das Nichts von Kleidung wehrlos war.
    Vika trug eine mit Elfenmotiven bedruckte lindgrüne Strumpfhose, darüber einen weiten Minirock, goldenes Glitzern der Sonnen und Planeten auf tiefschwarzem Hintergrund, über der Nacktheit des Bauches spannte sich etwas Hauchdünnes aus Tüll, über dem Gewölbe der Brüste ein roter BH. Ihre Füße steckten in Ballerinenschühchen, keine Socken, natürlich nicht. „Sieht gut aus“, hatte Mareike gesagt, als sie sich trennten. Mareike war eine der Vortänzerinnen, Vika ein bewegliches Objekt in der Masse, im Pulk wildfremder Menschen, die man sich als eine mit zwei zu multiplizierende Menge schmerzender Füße vorstellen musste.
    Noch schlimmer als den Füßen erging es indes den Ohren. In sie hinein kroch der blanke Kitsch, zu Tönen umgearbeiteter Kunsthonig, Frauen in langen schwarzen Abendkleidern, mit Fingern, die spinnenfüßig über das Gewebe von Harfen wandelten, Männer in Fracks und Fliege, Geigen wie Mordwaffen zwischen Kinn und Schulter. Vika bereute es, das von Mareike angebotene Ohropax verschmäht zu haben. Sie hatte nichts gegen gestrichene Musik, man sollte sowieso das meiste aus dem Repertoire streichen, nein, Scherz, sie schätzte das Symphonische, wenn es nicht synthetisch war und einfach nur sympathisch sein wollte, ein Picknick der Gehirnzellen, bei dem die sich gegenseitig schmatzend auffraßen. Ein Menschheitsbedürfnis, aber in diesen Augenblicken war Vika mit ihrem Verdacht, kein Mensch zu sein, höchst zufrieden.
    Jemand hatte ihr seine Hand auf den Rücken gelegt, unangenehm. Zu dieser Hand gehörte ein Gesicht hinter einer Maske, die stark an den Karneval in Venedig erinnerte, goldfarben, die Umrisse von Augen und Mund schwarz nachgezeichnet, der Mund seltsam grinsend. Noch unangenehmer. Ein Mann oder eine Frau, nicht zu erraten unter dem wallenden Gewand aus rotem dickem Stoff, in den goldene und silberne Fäden gewirkt waren. Vika beschleunigte, tänzelte weg von dem Wesen mit der Maske. Dachte aber: Wenigstens das ist hier normal. Du wirst angemacht, eine gute Gelegenheit dazu, Fasching halt. Die Hand war nun abgeschüttelt, die Person aber folgte Vika, hob abermals den Arm. „Piss off“, zischte Vika, die Maske schrak zurück, der Mund unter dem grinsenden Mund würde nicht grinsen oder doch. Die Person ließ sich zurückfallen, nur ein wenig, zwei oder drei Meter. Mann? Frau? Immer noch nicht zu sagen. Vika konzentrierte sich auf das Tanzen und versuchte sich nicht auf die Musik zu konzentrieren. Trance. Die Billigversion. Nicht mitten im Strom, aber mitgerissen, doch immer Herrin über die Sinne. Die Füße. Die Ohren. Man gewöhnte sich an die Schmerzen, sie waren eben da.
    Und dann wieder die Hand auf dem Rücken. Die metallische Kälte der Maske an Vikas Wange, Vikas Ohr. „Don't be afraid, Darling. There's

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