Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
„Bauernschenke“, es brannte noch Licht. Verschnaufen und eintreten.
Sofort richteten sich alle Blicke auf mich. Meiner jedoch richtete sich nur auf Hermine, die am Tisch hockte, den Kopf zwischen den Handflächen. Sie schaute auf, sah mich, wurde käseweiß, rief: „Moritz! Du lebst? Na, dir werde ich...“ Ich wusste nicht, was sie mir werden würde wollen. Ich sagte ein schüchternes „Hallo“ und hatte plötzlich unbändigen Hunger.
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Das sei ja ein dickes Ei. Ich fand Marxers Vergleich ein wenig unpassend, die Runde indes nickte ihn betroffen ab. Meine Geschichte hatte selbst mir, als ich sie erzählte, den Appetit gründlich verdorben, das senegalesische Nationalgericht (Der Name ist unaussprechlich und ich habe gar nicht erst den Versuch gemacht, ihn mir zu merken) stockte bei seiner Beförderung in meinen Magen wie ein störrischer Muli, denn diesen Magen versperrte ein unangenehmer schwerer Kloß. Vielleicht lag aber meine Appetitlosigkeit auch nur daran, dass ich Mineralwasser trank, einen für meine Ernährung völlig ungewohnten Stoff.
„Wird ja immer schöner“, stellte Nancy fest und sah dabei Borsig so tief in die Augen, dass der kleine Mann sichtbar erschauderte. „Woher wissen DIE das überhaupt mit diesem armen Herrn Rath? Wurde der überwacht? Und warum?“ Einige der vielen unbeantworteten Fragen. Es mochte sein, dass Rath jemandem von seinem bevorstehenden Treffen mit mir erzählt hatte. Dass er vielleicht in all dem geordneten Durcheinander seiner Erinnerungszettel eine Verbindung entdeckt hatte, die sich finanziell für ihn lohnen konnte. Also Erpressung? Ich traute es ihm irgendwie nicht zu, außerdem soll man nichts Schlechtes über Tote reden, aber so ganz von der Hand zu weisen war die Hypothese nicht.
„Gib mal den Zettel“, forderte mich Marxer auf und hielt mir schon seine nach sherlockholmes'scher Detektion fiebernde Rechte hin. Ich reichte ihm das Ding, er las es sich durch, machte „so so“ und „holla aber auch“, endete mit „das ist ja interessant“ und gab mir den Zettel zurück. „Eine assoziative Reihe, die mit einem Ouzo beginnt.“ Sehr schwach, Herr Krimiautor, dafür hätte ich auch einen Grundschüler um Expertise bitten können. Der Dichter vergewisserte sich, dass die gesamte Tischbesatzung – insbesondere deren weiblicher Teil – an seinen Lippen hing und fuhr fort: „Der Sprung zur Akropolis ist folgerichtig, aber Achtung. Erinnern wir uns, wie der unglückliche Rath seine Assoziationsreihe begonnen hat. Mit Plüschhandschellen und einer –Pardon, Mesdames – eher zufälligen Bordellszene. Somit könnte auch der Ouzo im Grunde nicht wirklich zur Sache gehören und die Akropolis nichts weiter sein als eine ebenso willkürliche Assoziation, ein phonetisches Verbindungsstück zu Agrar.“
Mohamad Ndaye hob schüchtern die Hand und bat ums Wort. Marxer sah ihn milde lächelnd an – immer gut, wenn man auch einmal Amateurmeinungen hört – und der Senegalese sagte: „Könnte es nicht sein, dass dieser Herr Rath – er befand sich schließlich im Todeskampf – gar nicht Agrar meinte, sondern Accra, die Hauptstadt von Ghana? Das wäre auch Geografie, oder? Und ist Agrar überhaupt ein WORT? Eine Art Vorsilbe, oder?“
„Genau!“ mischte sich Irmi ein, „und agrar steht für Landwirtschaft, also vielleicht für diese merkwürdige Landkommune und ihren Geldlosfimmel? Dann wären wir wieder bei Thema. Und wie heißt das nächste Wort? Rarität? Also Seltenheit... Hm.“ Sie grübelte, wir grübelten, sogar Marxer tat so, als grübele er. Etwas ganz Seltenes, vielleicht Einzigartiges... und dann dieses Täterätäta... eine Blaskapelle in einem verrauchten Bierzelt, gute Stimmung, schunkelndes Volk... Es brachte uns alles nicht weiter. Wir kannten den Mechanismus der Rathschen Assoziationen zu wenig, diese Bocksprünge der Gedanken und Dialogfetzen, die er gespeichert hatte.
Wir schwiegen eine Weile, bis Sonja Weber, ausgerechnet Sonja Weber, sehr leise sagte: „Vielleicht hat der Unglückliche uns nur auf die Spur seines Mörders setzen wollen. Ouzo. Er kennt ihn aus Griechenland, irgendwo auf dem Lande, wo es etwas sehr Seltenes gibt, das mit Blasmusik zu tun hat.“ Das klang nicht einmal dumm. Konnte ja sein, dass Rath in seiner Freizeit einem Orchesterverein angehört hatte, der zum hundertjährigen Bestehen der Stimmungskapelle „Gute Laune Saloniki-Land“ dorthin gereist war und bei dieser Gelegenheit... ja, was
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