Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
ich keine gefüllten Weinblätter.“
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Na klar, musste so kommen. Die Assoziations- und Metaphermaschine ächzt und quietscht. Sie kriecht wie durch den Geburtskanal, dem neuen Leben entgegen, Renaissance für alle Besitzer eines Vollabiturs. Ganz schön eng hier. Und dunkel. So fühlt sich der Braten in der Röhre, neue Assoziation wegen Hunger. So fühlt sich ein Schluck Wasser auf dem Weg blasenwärts. Assoziation: Durst. Go, Vika, go!
Hätte sie in der Schule aufgepasst und Mathe auch nur ansatzweise kapiert, wäre es jetzt kein Problem, den Steigungsgrad des Tunnels verlässlich zu schätzen, durch den sie sich zwängte. Immerhin keine neunzig Grad, das wäre ja... oder 180? Völlig egal. Sie stemmte die Glieder gegen die Wände, schaffte sich hoch, schaffte sich weiter, wartete auf das legendäre Licht am Ende des Tunnels. Da vorne! Weiße Punkte! Oder spielten ihr nur die Augen einen Schabernack? Und überhaupt: Freu dich nicht zu früh, Vika. Weißt du, was dich erwartet, wenn du hier tatsächlich rauskommen solltest? Die Freiheit? Glaubten auch die Leutchen in der Ukraine. War wohl nix.
Aufgeschürfte Ellenbogen, aufgeschürfte Knie. Die nächsten Tage darf dich keine Frau nackt sehen. Sich höchstens einem Mann ohne alles zeigen, zur Abschreckung, damit er vor lauter Abscheu schwul wird. Aber sind ja die meisten sowieso, nur die wenigsten wissen das. Abwegige Gedanken. Assoziationen, die man gerade nicht einordnen kann. Anzeichen von Panik?
Die Punkte wurden größer, sie wurden heller, gleich hatte sie es geschafft. Ein Luftzug kam ihr entgegen, besser als ein D-Zug, von wegen Tunnel, von wegen Licht. Haha, Vika, immer einen Scherz auf den Lippen, die, ganz nebenbei, inzwischen so spröde sind, dass du dir besser einen islamischen Schleier besorgst, bevor du wieder unter Leute gehst. Oder gleich ne Burka. So hat jede Religion ihre Vorteile.
Ende Gelände. Vor dir liegt die Freiheit, nur eine Metallklappe mit Lamellen ist dir noch im Weg. Erst einmal verschnaufen, die frische Luft in die Lungen schaffen, warten, bis die Atmung gleichmäßig geworden ist. Dann mit den Knien die Lage stabilisieren, das schmerzt, aber geht nicht anders. Mit der Rechten gegen die Klappe drücken, hoffen dass sie nachgibt. Und, sieh mal an, sie leistet kaum Widerstand. Macht ein schiefes Geräusch und verabschiedet sich, ein Stückchen grauer Himmel wird sichtbar. Alles in Ordnung, Happy End? Noch lange nicht. Vielleicht geht es am anderen Ende des Vierecks fünfzig Meter steil in die Tiefe. Dann, liebe Vika: Adieu. Du stirbst mit einem von vergeblicher Anstrengung geschundenen Körper, du kannst ihn – schneller Tod – zerschmettern lassen, du kannst aber auch zurückkriechen und mit dieser Heulsuse Lydia qualvoll vor dich hin krepieren. Hübsche Alternativen.
Den Kopf rausstrecken. Haha, von wegen fünfzig Meter steil in die Tiefe! Der Lüftungsschacht endet ganz profan einen halben Meter über der Erde, Waldboden. Das Gefängnis ist also ein Bunker, wahrscheinlich aus dem Zweiten Weltkrieg, wahrscheinlich von deutschen Soldaten erbaut (oder ihren Sklaven), denn dass die Wehrmacht Jersey besetzt hatte, wusste Vika. Nicht aus der Schule. Aber damit machten sie hier Werbung und hatten auch entsprechende Museen. So, genug mit dir selbst geplaudert, raus jetzt. Der Körper flutscht aus der Röhre, Vika ist wiedergeboren, sie liegt im feuchten Dreck eines Wäldchens, sie rollt sich auf den Rücken, starrt gen Himmel, möchte ihn umarmen, hält das Himmelsgrau für ihre Lieblingsfarbe. Atmet durch. Hat Hunger, hat Durst, hat überhaupt viele Probleme. Eines davon heißt Lydia. Was macht sie nun mit der? Die wartet da unten! Die wird ihr niemals folgen können!
Also, neue Aufgabe: Den Eingang zum Bunker finden. Irgendwie reinkommen, Lydia rausholen. Erst einmal: essen und trinken, vor allem trinken, trinken, trinken. Nein, immer logisch bleiben. Erst einmal aufstehen.
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Dem Tätowierer beim Verzehren seiner Mahlzeit zuzuschauen, stellte sich als unblutige Variante mittelalterlicher Foltermethoden heraus. Eine Art Augen- und Ohrentortur, eine Symphonie in aus den Mundwinkeln quellendem Fett und opulenten Schmatzgeräuschen, ein ästhetisches Fiasko in Joseph-Beuys-Tradition, mit dem knappe 2000 Jahre Esskultur verhöhnt wurden.
„Willst wirklich nichts?“ fragte Atze fürsorglich und schob mir ein Plastikschälchen mit kalten Fritten und fettigem Gyros hin. „Nein danke“, lehnte ich ab, „ich
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