Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Morgen bei mir“, begann sie, „man hat einen Toten entdeckt, der die Papiere meines Bruders bei sich trug.“ Ich machte „aha“, als sei das eine neue Nachricht für mich.
„Ja, stellen Sie sich vor. Sie haben mich befragt und dann mitgenommen ins – “ Das Wort „Leichenschauhaus“ zierte sich eine Weile, bis es über ihre Lippen kam. Es sei aber gottlob keine Identifizierung notwendig geworden, fuhr Sonja Weber fort, was mich ehrlich erfreute, denn inzwischen habe man bei der Polizei die Fingerabdrücke des Toten einem Lothar Schyprishyvitzky zuordnen können. Sie sprach den Namen mit einer Selbstverständlichkeit aus, als trage sie ihn täglich im Mund, und das machte mich misstrauisch. „Kennen Sie diesen Mann?“ fragte ich und wieder zögerte Sonja ein wenig, bis sie ein „Nein“ herausbrachte. „Ich kümmere mich darum“, sagte ich, und sie: „Ja. Ich habe auch nichts von Ihnen gesagt. War das in Ordnung? Es ist alles so furchtbar.“ Ich nickte, was eine ziemlich dämliche Reaktion ist, wenn man gerade telefoniert.
Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen im Café Böhringer, das hoffentlich nur zufälligerweise wie das bekannte Chemiewerk heißt. Ich beschloss, dem verblichenen Lothar zukünftig Schmidt zu nennen und, sollten diese Aufzeichnungen jemals als Buch erscheinen – womit bei der skandalösen Lage unseres literarischen Krimimarktes stark zu rechnen ist – diesen Hilfsnamen durch Suchen / Ersetzen gegen den richtigen auszutauschen. Lothar selbst sollte es nicht mehr jucken, wenn er endlich einen vernünftigen Namen bekam.
Ich wusste nichts über diesen Lothar Schmidt. Nur, dass er aus dem Haus gekommen war, in dem Sonja Weber wohnte, diese ihn vom Fenster aus beobachtet hatte, wie er die Bauernschenke betrat, um dort mit Monika / Helga ein sehr gereiztes Gespräch zu führen. Dass man seine Wohnung beschattet hatte und irgendein Zusammenhang zu Georg Weber bestehen musste. Das war nicht viel, aber besser als gar nichts.
Und jetzt? Ein „Handbuch für Detektive“ besaß ich nicht, auch keinen Kumpel bei der Polizei, der mir hätte erzählen können, wieso man Lothars Fingerabdrücke so fix hatte in den eigenen Beständen finden können. Ich stellte mich wieder ans Fenster und wartete auf das nächste Schneebrett, das vom Dach rutschen würde, ich suchte mir Passanten aus, denen ich das Ding auf dem Kopf gönnte, aber nichts tat sich.
Ein weiser Mann hat einmal gesagt, wenn dir die Wirklichkeit die kalte Schulter zeigt, dann stürze dich in die Arme der Fiktion, denn sie ist meistens eh die bessere Wirklichkeit. Nicht dass ich solchen Unsinn geglaubt hätte. Die meisten weisen Worte sind völliger Unfug und die blödsinnigen sind es sowieso. Vorhin hatte ich noch aufgeschnappt, der Winter sei nicht gut für den Wirtschaftsaufschwung, was mich höchlichst überraschte. Winter? Jetzt? Im Dezember? Die Welt schien aus den Fugen geraten. Und der weise Mann hatte freundlich lächelnd angefügt, man tue gut daran, jetzt auf den Autobahnen etwas schneller zu fahren, schon um wenigstens die Notfallmedizin zu unterstützen.
Kurzentschlossen und todesmutig verließ ich meine Wohnung, um den Dichter Marxer aufzusuchen und um Rat zu fragen. Er ist KEIN weiser Mann, er ist nur ein Schriftsteller. Er ist auch nicht dumm. Und dennoch redet er eine Menge Unfug, von dem er prächtig leben kann.
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Mein Freund, der Dichter Konstantin Marxer, ist das lebende Beispiel dafür, dass man auch ohne die umstrittene Präimplantationsdiagnostik zufriedenstellende Kinder gebären kann. Wir hatten uns in der Schule kennengelernt. Er Liebling der Lehrer und Mädchen, ich der von der Natur vorgesehene Antipode. Während ich meine Ausbildung verfeinerte, um das mir zugewiesene Schicksal eines Versagers zu erfüllen, setzte sich Marxer vier Wochen lang auf den Hosenboden und schrieb einen Roman, „Die Stille des Meeres, wenn es stürmt oder schneit“.
Eine coming-of-age-road-novel, der deutsche „Fänger im Roggen“ auf Weißbrotbasis plus die Tiefsinnigkeit Heinrich Bölls in der Schreibe Charles Bukowskis, hätte der Boris Pasternak geheißen und wäre ein Duzfreund von William S. Burroughs gewesen. Vor allem der Untertitel – „Eine Selbstbefriedigungsphantasie“ – erregte die Selbstbefriedigungsphantasie der Literaturkritik und ließ das Buch zu einem Achtungserfolg werden. Marxer fand eine Mäzenin – sie war 39 und litt an Juvenilsucht – und ergatterte mehrere Stipendien
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