Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
sollen. Was sind Verbrechen? Verbrechen sind Taten, um die sich die Justiz kümmert. Damit das passieren kann, muss es Menschen geben, die solche Taten der Justiz anzeigen. Siehe diese Naziterrorbande. Zehn Morde, mindestens. Da man aber keine Zusammenhänge entdecken konnte – oder wollte? -, blieben die Mörder jahrelang ungeschoren, die Taten folglich ungeklärt. Haben wir jetzt auch wieder. Es sind Menschen ermordet worden, aber man sieht die Zusammenhänge nicht. Wenn man die Zusammenhänge nicht erkennt, wird man auch die Hintergründe nicht aufklären, die Täter nicht fassen können. Logisch, oder?“
Hermine antwortete nicht. Wir saßen nebeneinander, hielten Händchen und warteten darauf, dass es völlig dunkel werden würde. Die Kids waren aus dem Haus, es war still. Zu still. Wir dachten nach. „Und was jetzt?“ fragte Hermine schließlich. Ich wusste es selbstverständlich nicht. „Wir warten ab“, antwortete ich wenig ergiebig, „man sehen, was Borsig mit diesem pädophilen Karnevalsprinzen anstellt.“ Hermine kicherte. „Au ja, da wäre ich gerne mit dabei. Wie ich die Künstlerinnen kenne, treiben sie dem Burschen die jungen Mädchen ein für allemal aus.“
„So“, sagte sie nach weiteren zehn schweigsamen Minuten und stand auf. „Ich hab ja noch nen Brotjob. Willste mit oder ist die 'Bauernschenke' jetzt unter deinem gesellschaftlichen Niveau, Herr Bundesbeauftragter für Bürgerdingsbums?“ Hm, eigentlich hatte sie Recht. Meine neuen Pflichten rieten mir auch, noch einmal ins Büro zu gehen und mit der dort vielleicht noch anwesenden Annamarie Kainfeld die Geschäftsobliegenheiten der nächsten Tage abzuklären. Mein Gott, wie ich schon dachte!
„Also?“ Hermine zog sich die Schuhe an. Ich erhob mich ebenfalls. „Geh schon mal vor, ich komm dann nach. Muss noch mal ins Büro.“ „Aha“, sagte Hermine. „Annamarie? Pass auf, dass du unbeschädigt bleibst. Ein Mann ohne funktionierende Fortpflanzungswerkzeuge ist in etwa so brauchbar wie ein Kugelschreiber ohne Mine.“ Ich versprach es ihr.
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Wow! Was für ein Ambiente! Schrott! Kunst! Karl-Heinz war schwer beeindruckt, als er Nancys Atelier betrat. „Hallo?“ Niemand antwortete. Er sah sich neugierig um. Riesige Skulpturen aus rostigem Metall, aus unsichtbaren Lautsprechern floss dezente Musik, süße juvenile Töne, die Karl-Heinz für sich als Fickmusik bezeichnete. Jahrelang hatte er sich dafür verflucht, nicht katholischer Priester geworden zu sein und damit dem weltweit einzigen Berufsstand anzugehören, dessen sexuelle Praktiken regelmäßig in der Zeitung standen. Lieber ein kleiner anonymer Schrotthändler. Da – Schritte. Eine heiße Welle ebensolcher Erwartung fuhr durch Karl-Heinzens Körper.
„Hallo, mein Prinz, da bist du ja endlich!“ Borsig trug einen glitzernden Morgenmantel und Hauslatschen, sonst wohl nichts, wie Karl-Heinz mutmaßte. „Das Modell sitzt schon bereit und friert sich den herrlichen Arsch ab. Komm mal mit.“ So etwas musste man Karl-Heinz nicht zweimal sagen. Allein der Gedanke an baldige Wonnen hatte ihn auf einen Schlag 500 Gramm schwerer werden lassen. Naja, so ungefähr. Karl-Heinz war ein notorischer Angeber, wie nicht anders zu erwarten.
Das waren die Augenblicke, für die er lebte. Er dachte nicht mehr an all die Schattenseiten seiner fatalen Neigung, Schattenseiten, die ihn ungerechterweise heimsuchten. Das ewige Versteckspiel, die Erpressungen, ja, auch die Gewissensbisse. Dabei – er tat den Mädchen doch nichts. Er zwang sie doch gar nicht zu irgendwas. Er ließ sie unangetastet – also in diesem EINEN Punkt – wenn sie ihn ein wenig antasteten. War doch egal, ob sie einen Schokoriegel anlangten oder... Lernten sie doch noch was dabei. Learning by doing, sozusagen. Biounterricht unter Ernstfallbedingungen.
Er war nicht krank! Das behaupteten die Spießer, die Verklemmten! Das war doch, ha ha, eine Folge der katholischen Sittenlehre! Man konnte nur lachen. Ausgerechnet die! Hockten in ihren Glashäusern und warfen mit Steinen um sich! – So, jetzt aber mal am Riemen reißen. Das Ambiente befeuerte ihn. Diese ganze Kunst, diese totale Bohème. Eine Alte tauchte zwischen zwei Skulpturen auf, die wie übergroße Penisdarstellungen bis knapp unter die Decke erigierten. Aha. Die Puffmutter oder was.
„Willkommen, mein Junge“, sagte sie. Karl-Heinz murmelte ein „Hallo“ und bemühte sich, der Alten nicht zu direkt in die Augen zu schauen. Borsig kicherte.
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